Achtsamkeit ist “in”, und nicht erst seit ein paar Monaten. „Bien-être“, Wohlbefinden, Resilienz, Stressbewältigung, mehr Konzentration, all das wird gerne versprochen und dringend gesucht. Wenn sich herumspricht, dass etwas gut ist und tatsächlich etwas verändern kann, dann möchte jeder eine Scheibe davon haben. Wunderbar!
Aber: Achtsamkeit ist kein Werkzeug und kein cooles Accessoire für den Lebenslauf. Achtsamkeit ist eine Haltung, eine innere Ausrichtung. Hier wird es kniffelig, denn eine Haltung kann man nur sehr schlecht und immer nur bruchstückhaft beschreiben und definieren – man muss sie verkörpern. Und nun das zweite Hindernis: Man verkörpert die Haltung nicht, um jemandem zu zeigen, wie „toll“ das ist oder wie es „hilft“. Es gibt überhaupt kein „um zu“, es gibt keinen Zweck und kein Ziel. Es gibt nur das eigene Fühlen und Leben und Sein, weil es sich irgendwann so ungemein stimmig und natürlich anfühlt. Das Tun und Handeln entspringt dann aus diesem inneren Sein.
Habe ich dich, liebe Leserin, lieber Leser, jetzt in Unverständnis verloren? Genau das ist die Krux: es ist so schwer zu erklären.
Wie es nicht sein sollte
Trotzdem klingt das Wort Achtsamkeit gut und es verheißt Stressbewältigung, mehr Resilienz, mehr Zufriedenheit, inneren Frieden und weniger Konflikte mit anderen Menschen. Das ist auch alles möglich, aber darum geht es eigentlich nicht. Dennoch gibt es immer wieder Anfragen von Leitungsebenen, um ihren Mitarbeitern und Angestellten eine Weiterbildung in Achtsamkeit zu organisieren. Das Problem: hier ist eigentlich immer ein „um zu“ dabei. Achtsamkeit soll kennengelernt werden, damit die Mitarbeiter besser mit Stress umgehen können. Oft sind Personen im Bildungsbereich die Zielgruppe, die bei ihrer ungemein herausfordernden Arbeit etwas weniger frustriert sein sollen. Auch ist es oft eine Vision der Organisatoren, dass die Kinder indirekt oder auch direkt davon profitieren mögen. Die Idee ist eine sehr schöne, die Umsetzung oft schwierig. Denn Achtsamkeit lässt sich nicht erzwingen. Sobald der Besuch einer Achtsamkeitsweiterbildung zur Pflicht wird, hat man schon die Hälfte der Teilnehmer*innen innerlich verloren.
Während ich während der Weiterbildung das Fenster zu einer neuen Welt und der achtsamen Haltung der Menschlichkeit und Verbundenheit öffne, ist ständig noch jemand mit im Raum: der innere Teil, der jeder Teilnehmerin und jedem Teilnehmer sagt: „Jetzt musst du das auch bitteschön in den Berufsalltag bringen und richtig anwenden.“ Da ist es wieder, das nicht sehr hilfreiche „müssen“, das oft so viel Widerstand auslöst und dadurch den Blick und das Einlassen immer wieder verengt. Oft verbringen wir zu Beginn einer Weiterbildung zunächst einmal einige lange Minuten in der Diskussion, dass es nicht hilfreich ist, einen Achtsamkeitskurs zu verpflichten und dass es wohl jedem auf der Hierarchieleiter gut tun würde, innezuhalten und aus dem Autopiloten auszusteigen, besonders den Vorgesetzten, die das gerne ihren Angestellten verschreiben. Die Diskrepanz zwischen der Sehnsucht, dem Schmecken einer neuen Lebenseinstellung und Perspektive auf sich selbst und auf das Leben auf der einen Seite und dem alltäglichen Druck, den Leistungsanforderungen, Erwartungen und engen sozialen Gefügen auf der anderen Seite ist oft sehr groß. Dann kann Achtsamkeit schnell zu einer weiteren Sache werden, die von einem verlangt wird, um mit dem Ganzen, was eigentlich schief läuft, aber bitteschön besser umgehen zu können.
Wenn das menschliche Gehirn unter Druck steht, dann stecken wir im Tunnelblick fest. Dann ist da weder Geduld noch Neugierde noch Raum für Inspiration, und was soll das Gerede vom „Leben leben wie es ist“ und „Alles darf sein“? Hier sein, sitzen und den Anker im Körper suchen fühlt sich unmöglich an. Ich will doch eben gerade nicht hier sein! Und meine Direktion soll sich bitteschön mal selbst hierhin setzen an einem Samstagvormittag!
So sollte es natürlich nicht sein.
Wie es sein sollte
Der Samen der Achtsamkeit kann nur in fruchtbarem Boden wirklich aufblühen. Fruchtbar ist der Boden, wenn da eine Offenheit besteht, ein echtes Interesse. Neugierig darauf, wie das Gehirn funktioniert, weshalb wir immer wieder in die gleichen Stress- und Denkmuster verfallen, weshalb wir aus schwierigen Emotionen oft nur schwer rauskommen, wie sich gelebte Menschlichkeit anfühlt, wie das ist mit den Signalen des Körpers, und vor allem: was es da sonst noch gibt im Alltag und im Leben, das wir vielleicht noch nicht kennen. Skepsis kann übrigens ein sehr guter Dünger für den Boden sein, weil Skepsis hellwach macht und ins echte Erforschen führt.
Die konkreten Ziele und Wünsche zu Beginn einer Achtsamkeitsintervention dürfen als roter Faden dienen, werden aber oft im Laufe der Praxis immer unwichtiger, weil sich herausstellt, dass das konkrete Ziel nur der Rand eines zusammengeklappten Fächers ist. Meine Aufgabe als Kursleiterin ist es zu vermitteln, dass es da noch viel mehr gibt und dass der Fächer des Lebens eigentlich riesengroß und wunderschön ist. Ich zeige auch Techniken, um weiter aufzufächern, und gebe Einblicke in das große Bild. Den Fächer aufzuklappen und zu schauen, was man damit machen kann, das aber ist eine ganz individuelle Handlung und bei jedem anders und auch unterschiedlich schnell.
Es ist sehr natürlich, dass die allermeisten mit einem „um zu“ zur Achtsamkeit kommen. Es gibt ein Ziel, es gibt ein Thema, es gibt einen Druck, und es gibt die Hoffnung auf eine Lösung. Diese erste Hemmschwelle zu überschreiten, in der deutlich wird: Achtsamkeit ist kein Quick Fix und Veränderung geschieht nicht von selbst, das verlangt die erwähnte Offenheit und Neugierde und vor allem Vertrauen. Ich probiere es mal aus, in diesem sicheren Rahmen von Kurs oder Seminar.
Oder: Ich bin gegenwärtig nicht bereit für etwas Neues, weil mein Leben so viel Druck ausübt und ich mich an diesem zwar engen aber bekannten Rahmen festhalte, um nicht zu fallen. Und trotzdem werden auch hierbei Samen empfangen und Sätze gehört, die irgendwann Wurzeln schlagen oder anderweitig weiterwirken. Die achtsame Haltung und zusammen in einem Raum sein mit den Qualitäten von Seinlassen und Wahrnehmen, was da gerade ist – Druck, Frustration, Traurigkeit, Stress, Schmerz oder Angst – bewirken von sich aus schon ein weicher und empfänglicher werden.
Keine Erwartung, keine Verpflichtung von oben herab, kein „müssen“ und „sollte“, kein „besser machen“. So sollte es sein.
Auch wenn es immer wieder zu viel Druck und Erwartung (besonders von anderen) gibt, ist es sicherlich hilfreich zu wissen, dass es dennoch diese innere Freiheit gibt: Achtsamkeit ist eine individuelle Praxis, und ich entscheide selbst, wie ich jetzt hier bin und ob ich mich öffne oder nicht. Alles darf sein. Wirklich.
Geh Deinen Weg in Deinem eigenen Tempo, in Deine eigene Richtung, mit Deinen eigenen Themen. Achtsamkeit ist eine Haltung, kein weiteres Tool für Deinen Berufsalltag. Entdecke es für Dich, nicht für irgendjemand anderen. Dann wird es von selbst nach außen wirken, aber ohne ein „um zu“.
P.S. Achtsamkeit mit Kindern und Jugendlichen ist ein Geschenk für die nächste Generation. Wer mehr darüber erfahren möchte – und vor allem, wie wir Erwachsene „unser Herz in das Klassenzimmer“ (L. Cozolino) und in jede Begegnung bringen können – dem sei der AmiKi-Online-Kongress von Arbor herzlich empfohlen!