Es gibt ein Thema, dass uns jeden Moment unseres Lebens begleitet, und doch wird es oft in den Hintergrund geschoben. Mental wissen wir, dass alles einmal zu Ende geht und sich verändert. Aber so richtig akzeptiert wird es kaum. Dabei können wir die Themen Vergänglichkeit und Tod um uns herum genauso wahrnehmen wie Entstehung und Geburt.
Es ist Frühling. Die ersten Knospen sprießen, die ersten Blumen kommen aus der Erde, es wird heller, die Natur wird grüner, die Vögel werden wieder zahlreicher und gestern flog eine Hummel an mein Fenster. „Die Natur erwacht“, sagen wir. Und ja, nach einem Winter tut es vielen Menschen gut, wieder mehr Sonne und mehr Wärme auf der Haut zu spüren und sich an den satteren Farben und zarten Frühlingsboten zu erfreuen. Es ist normal, dass wir bewerten und gewisse Vorlieben haben. Eigentlich aber folgt die Natur nur ihrem natürlichen Lauf von Veränderung, Kreislauf, Entstehen, Vergehen, Neu-Entstehen, immer in der Verbundenheit mit allem anderen. Alles hängt zusammen.
Der Tod zerrüttet jede Ordnung
Heute vor zwei Wochen ist ein mir sehr lieber Mensch gestorben, ein enges Familienmitglied. Eine Verabschiedung war nicht möglich, meine letzte aufmunternde Nachricht (mit einem Blumen-Emoji) in das Krankenhaus hat den Status „zugestellt“. Der Status „gelesen“ weist drei Punkte auf. Die Verabschiedung geschah dann bei der Beerdigung, aber das ist natürlich nicht das Gleiche. Seitdem ist alles anders. Und hier verursacht das Gehirn einen seltsamen Salto: als ob zuvor alles gleich gewesen sei. Veränderung ist allgegenwärtig, aber in unserer Alltagsrealität richten wir uns so ein, dass es sich fest und stabil anfühlt. Beziehung, Familie, Wohnort, Freizeitaktivität mit festen Zeiten, bekannte Wege, Arbeit, alles „meins“ und „unsers“ und „euers“. Das macht auch total Sinn, ohne diese Strukturen könnten wir überhaupt nicht überleben. Alles wäre anstrengend und unsicher, es gäbe keine Verlässlichkeit und Planungssicherheit, keine Ordnung und innere Ruhe.
Wenn so ein Ereignis passiert, dann ist es verständlich, dass alles bisher bekannte in seinen Grundfesten zerrüttet wird. Das Leben ist nicht fair. Und das Leben der hinterbliebenen Familie wird für immer einen anderen Lauf nehmen. Und auch hier macht das Gehirn, was es am besten kann: Geschichten erzählen. Wir alle stellen uns vor, wie es wohl sein wird, der nächste Geburtstag, das nächste Familientreffen, das nächste Lernen für einen Schultest, das nächste Weihnachten, die nächste Urlaubsplanung. Wie schwer es sein muss für die direkt Betroffenen. Und dann folgen die Emotionen, die Traurigkeit, die Angst. Im Grunde haben wir alle keine Ahnung, aber unser Gehirn spinnt trotzdem munter weiter. Wenn alles erschüttert wurde, der völlige Kontrollverlust passiert ist, dann braucht man Kontrolle, und Geschichten versprechen Kontrolle. Wir bereiten uns mental vor auf eine ungewisse Zukunft, und haben so das Gefühl, wenigstens nicht ganz unvorbereitet zu sein.
Landkarte der Trauer
In einer wunderbaren Trauer-Meditation von Dr. Joanne Cacciatore habe ich kürzlich folgende Worte gehört: „Stell dir vor, du wirst mitten in der Nacht von einem Flugzeug in einem fremden Land abgesetzt. Es ist stockdunkel, du bist allein und du hast keine Ahnung, wo du bist. Du tastest dich voran, irgendwann gibt es etwas Licht, vielleicht triffst du hier und da Menschen, manche können eine Art Führer für dich werden, dir den Weg zeigen, Schritt für Schritt gehst du weiter, mit deiner Angst, mit deiner Einsamkeit, mit deiner Unsicherheit und mit deinen ganzen Gedanken. Das ist die Landkarte der Trauer. Einiges in diesem Land wird dir bekannt vorkommen, aber es ist doch nie so, wie du es von früher kennst. Ähnlich, aber anders. Tief drinnen ist eine große Sehnsucht nach deinem Heimatland. Aber du weißt, du musst für immer hier bleiben, das dir bekannte Land ist für immer außerhalb deiner Reichweite. Mit der Zeit wirst du mehr und mehr auch die schönen Dinge dieses neuen Landes erkunden und erfahren, immer mal wieder. Gleichzeitig bleibt die Erinnerung an das, was du verloren hast.“
Sein mit dem, was (geworden) ist
Beides ist da, das Schöne und Neue und das Bekannte und Verlorene. Genauso wie im Leben alles da ist: Vergänglichkeit und gefühlte Beständigkeit, Lebendigkeit und Sterben, Geburt und Tod. In zwei Tagen hat ein anderer mir lieber Mensch Geburtstag. Alles ist Teil des Lebens, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als das Leben zu leben, das wir haben. Bei solch einschneidenden Erlebnissen wird es überdeutlich, was damit eigentlich gemeint ist: Sein mit dem, was ist. Und das bedeutet gleichzeitig: Sein mit dem, was geworden ist. Denn die Gegenwart ist ein Produkt der Vergangenheit. Jetzt ist jetzt, weil dies und jenes passiert ist. Der Frühling kommt, weil der Winter da war. Die Biene fliegt, weil ihr Flügel gewachsen sind. Der Körper ist müde, weil die Gartenarbeit gestern zu viel war. Das Herz ist offen, weil der Tod angeklopft hat und wahrgenommen werden will. Die Gedanken kreisen, weil die Ereignisse viele neue Geschichten in Gang gesetzt haben (Zukunft) und viele alte Geschichten wieder ausgegraben haben (Erinnerungen an die Vergangenheit mit dem verstorbenen Menschen).
Wenn wir das, was passiert, als Ausdruck des Lebens als Mensch wahrnehmen, können wir lernen, besser damit zu sein. Sein mit dem Schmerz, sein mit der Traurigkeit, sein mit der Freude, sein mit der Verbundenheit, sein mit der Unsicherheit („Was sage ich jetzt?“), sein mit dem notwendigen Alltagskram, sein mit dem, was ist. So gut es eben geht.
Die folgenden Worte aus dem Buddhismus sind mein täglicher Begleiter. Es mag nicht der Geschmack eines*r jeden sein, sich diese Wahrheiten regelmäßig zu vergegenwärtigen, aber vielleicht ist es für manche Menschen eine Stütze für eine größere Akzeptanz und Bewusstheit des eigenen Lebens:
Dieser Körper ist von Natur aus dazu bestimmt, älter zu werden.
Dieser Körper ist von Natur aus darauf ausgelegt, krank zu werden.
Dieser Körper wird schließlich sterben.
Ich werde letztendlich alles und jeden verlieren, der mir lieb und teuer ist.
Mein einziger wahrer Besitz sind meine Taten. Meine Taten sind der Boden, auf dem ich stehe.
This body is of the nature to grow old.
This body is of the nature to get sick.
This body will ultimately die.
I will ultimately lose everything and everyone I hold dear.
My only true possessions are my actions. My actions are the ground upon which I stand.