Gleichzeitigkeit

April 2025
Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels

Der Frühling zeigt sich immer deutlicher. Die Zeitumstellung ist geschafft und Ostern steht vor der Tür. Gerade sitze ich am Schreibtisch und sehe vor dem Fenster das noch zarte Grün auf Grasflächen und das heute makellose Blau am Himmel. Es ist Freitag, eine gewisse Vor-Wochenende-Ruhe ist spürbar.

Die große innere Familie

Wer meinem Weg schon etwas länger folgt, der hat wahrscheinlich mitbekommen, dass ich mich mit IFS beschäftige und mit dem Kennenlernen der innere Familie. In diesem Sinne ist meine Wortwahl zu verstehen. In mir sind ständig mehrere Teile präsent und aktiv. Sie zeigen sich über Gedanken, Bilder, Empfindungen, das ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Selten ist nur ein Teil am Steuer. Ich habe zum Beispiel eine sehr fähige und schlaue Managerin, die meinen Terminplan organisiert, die benötigten Materialien im Kopf hat, die anstehenden Geburtstage nicht vergisst und ständig mitdenkt, was dieser oder jener wohl brauchen könnte, die daran denkt, dass die Waschmaschine läuft und dass ich bald essen muss, sonst wird es knapp mit dem Termin um 2 Uhr. Enge Zusammenarbeit besteht also auch mit meiner inneren Zeitmanagerin, die beiden sind ein eingespieltes Team, das meistens reibungslos funktioniert. Dafür bin ich sehr dankbar, es erleichtert mein Leben ungemein. Vom Moment des Aufwachsens bis zum Moment des abendlichen Zu-Bett-Gehens ist meine Hauptmanagerin mal mehr oder weniger aktiv. Im Bett dann kommen oft Teile durch, die vielleicht entspannen möchte und noch etwas lachen (Medien) oder träumen (Buch lesen) oder sich verbunden fühlen (noch schnell eine Sprachnachricht schicken). Ja, ich habe auch einen vernünftigen Teil, der weiß, dass Medien im Bett nicht gut sind, der aber immer mehr akzeptiert: für mein System ist es besser, wie ich es gegenwärtig handhabe. Abends präsent ist übrigens auch ein Teil, der mich erinnert: Jetzt ist es genug mit Medien. Stopp. Naja, zumindest meistens. Je nachdem was in mir ist, übernimmt der Teil, der dringend Freude und Ablenkung braucht und gar nicht mehr denken möchte, und überrennt den vernünftigen Teil.

Das soll als ein Beispiel dienen, wie viele Teile je nach Situation aktiv sind oder nicht. Natürlich gibt es noch viel mehr Teile in meinem System. Und darum geht es: gerade jetzt fühle ich Erleichterung (der Teil, der sich immer sehr anstrengt, um einen guten Kurs zu halten, und der gerade nicht mehr leisten muss), Vorfreude (auf das Wochenende, auf den Frühling, auf Sonne, auf Ostern mit der Familie), etwas Anspannung (wir haben wieder viele Pläne für das Wochenende, auf welche Teile der Kinder und meines Mannes werde ich da stoßen?), Traurigkeit (vergangener Streit, Nachwirkungen eines Verlustes), Sorgen (Zukunft), Dankbarkeit (für so vieles in meinem Leben), Verbundenheit, Einsamkeit, und so weiter. Alles darf sein, ein Mantra, welches ich unendlich wiederhole. Es geht hier auch um die Gleichzeitigkeit. Alles darf gleichzeitig da sein. Und daran ist nichts falsch.  

Alles darf gleichzeitig da sein

Wir können trauern und gleichzeitig über einen albernen Scherz herzhaft lachen. Wir können uns sicher fühlen und trotzdem eine diffuse Angst verspüren. Wir können dankbar sein für so vieles in unserem Leben und trotzdem eine Ungeduld und nagende Unzufriedenheit in anderen Bereichen wahrnehmen. Wir können uns über eine Person und einen vergangenen Streit aufregen, gleichzeitig Schuldgefühle empfinden, Angst, Verunsicherung, dann kommt die Verärgerung wieder nach vorne, dann wieder ein beschwichtigender Teil, der die Wogen glätten will.

 

Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)
Walt Whitman
Widerspreche ich mir selbst? Sehr wohl, dann widerspreche ich mir selbst, (Ich bin groß, ich enthalte viele.)

 

Diese Gleichzeitigkeit von Impulsen, Gedanken, alten Themen, Verletzlichkeiten, Emotionen und dazu noch der gegenwärtige körperliche Zustand machen uns zum Menschen – und so unzuverlässig in der Art des Miteinanders. Wir können uns einfach nicht darauf verlassen, dass wir uns nicht von anderen reizen lassen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass wir immer freundlich und vernünftig mit den Dingen und Menschen umgehen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass wir keine Fehler machen. Aber genau das verlangen wir oft, wenn wir ehrlich sind, von anderen Menschen. Ich zumindest ertappe mich dabei, von anderen (und von mir auch) immer wieder zu erwarten, dass sie nach außen hin stabil, verlässlich und zugänglich sind. Und dann entsteht der Konflikt: Menschen können das gar nicht leisten.  

Das einzige, was bleibt: der Blick nach innen

Das einzige, was uns bleibt, ist, uns immer besser kennenzulernen. Immer mehr zu spüren, welcher Teil oder welches Thema gerade bei uns präsent ist. Immer mehr in die Selbstverantwortung zu gehen und nach innen zu schauen: Warum nervt mich das so? Warum sage ich nicht, was ich wirklich denke? Weshalb fühle ich mich hier so unwohl? Was hätte ich gerne und warum merkt die andere Person das nicht? 

Diese Fragen zu stellen ist nicht einfach. Es ist aber der einzige Weg, um mehr und mehr zu sich zu finden, diesen inneren stabilen Kern wahrzunehmen. Das innere Selbstbewusstsein, im wahrsten Sinne des Wortes. Einer meiner Lehrer nennt das das „Leben aus dem Sein“, im IFS heißt es „SELBST-geführtes Leben“, im Buddhismus spricht man von der „wahren Natur“. So oder so ist es schwierig wenn nicht gar unmöglich, jemals anzukommen. Leben ist ein Prozess, kein Zustand oder Endpunkt. Denn es ist immer jetzt, und jetzt ist immer anders und neu. Erst, wenn wir lernen, mit der Gleichzeitigkeit von vielem umzugehen, können wir besser auf das reagieren, was das Leben uns bietet. Je mehr Menschen sich auf den Weg machen, desto einfacher wird es, denn dann verringern sich die ewigen Schuldzuweisungen und Missverständnisse. Dann wird Kritik nicht so schnell persönlich genommen, sondern als Ausdruck des gegenwärtigen Zustands: Das ist passiert und so hat es sich für mich angefühlt. Und jetzt ist da Verwirrung und auch ein bisschen Empörung. Können wir darüber reden? 

Die „anderen“ ziehen aber nicht mit

In meinen Kursen komme ich immer wieder in Kontakt mit der Frustration der Teilnehmer*Innen, dass „die anderen“ nicht offen sind, nach innen zu schauen und innezuhalten, ehe sie ihre Themen bei ihnen abladen, sei es in Worten oder einfach im Tonfall oder in einer scharfen Antwort auf ein oft eigentlich kleines Problem. Auch das darf sein. Wir können erkennen, dass wir hier einen selbstgefälligen Teil haben, der denkt, er wisse, was das Richtige für andere sei. Dass wir einen bewertenden Teil haben, der denkt, wir seien besser als andere weil wir uns mehr bemühten. Diese Teile dürfen gleichzeitig da sein mit der Enttäuschung, der Wut, der Sorge, der Traurigkeit, dem Trotz und was sonst noch da ist. Und dann lernen wir, damit umzugehen und das, was nicht hilfreich ist (zum Beispiel die Be-oder Abwertung von anderen), loszulassen. Es ist so spannend, bei sich selbst zu schauen, was gerade los ist. Mehr können wir ohnehin nicht kontrollieren. Ja, wir müssen ändern und verbessern, was wir können – dazu mehr in einem späteren Artikel. Aber der erste und wichtigste Schritt ist: nach innen schauen und verstehen.

Welche Teile sind bei dir jetzt gerade präsent?    

Weitere Artikel

Alle meine Blog-Artikel finden Sie hier.‍

Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels
Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels
Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels