Zu Beginn des Jahres war ich in Norddeutschland auf einem Retreat. Schweigen, Meditation im Sitzen, Gehen und Essen und in der Bewegung. Stell Dir vor, ein Filmprojektor projiziert einen Film auf eine Ansammlung von Menschen. Es wird nicht viel zu erkennen sein, da sind zu viele Formen, Farben, Bewegung, Geräusche. Wenn der gleiche Film auf eine weiße Wand gespielt wird, dann erst kann man ihn sehen.
Genau das passiert in einem Retreat: Es gibt kein Fernsehen und kein Handy, kein Alkohol, keine Bücher und keine Konversation – „Schweigen als der eigentliche Lehrer“ (Jake Dartington). Die äußerlichen Ablenkungen und täglichen Gewohnheiten werden auf ein Minimum reduziert, so dass man die inneren Abläufe (=Filme) klarer sehen kann.
Auf einem der achtsamer Spaziergänge richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die Landschaft: grau und matschig, verdorrte Zweige, gepflegte aber blütenlose Gartenanlagen, dreckige Pferde auf der Weide, überall Pfützen und verfaulte Blätter. Die Häuser waren wunderschön und man konnte sehen, dass die Menschen hier viel Sorgfalt darauf verwenden, alles in Stand zu halten.
Das Gehirn arbeitet immer
Dennoch konnte ich die ganze Zeit den folgenden Gedanken ertappen, der immer und immer wieder auftauchte: „Wie schön mag das hier sein, wenn erst einmal alles blüht!“ In meiner Vorstellung sah ich lachende Kinder in Sommerkleidern auf den Schaukeln, blühende Hecken, den Teich voller Pflanzen und das Haus „Am Rosengarten“ in seiner ganzen Pracht.
Und immer wieder konnte ich die blitzschnelle Funktionsweise des Gehirns erkennen: äußerliche Eindrücke (hier: sehen) à beurteilen à Phantasie und Ideen: „was wäre, wenn...“ oder „schöner finde ich es so“. Alles, nur nicht das urteilsfreie Wahrnehmen des gegenwärtigen Augenblicks: Jetzt gerade ist es so.
Das Leben ist jetzt
Aber die Praxis der Achtsamkeit besteht eben gerade nicht darin, diese Gedankengänge zu bewerten und zu kritisieren. Es geht nur darum zu erkennen, wie wir Menschen funktionieren. Erkennen, dass wir Dinge und Situationen, die uns nicht gefallen, ändern möchten – und sei es nur in unserer Phantasie. Erkennen, dass wir immer und überall bewerten. Erkennen, dass wir fast immer auf ein Ziel hinarbeiten, auf etwas warten (zum Beispiel auf den Frühling). Erkennen, dass genau dieser Augenblick in seiner vermeintlichen Unvollkommenheit das Leben ist. Erkennen, dass genau jetzt so viel Schönes und Spannendes zu erleben ist: die wunderschönen Augen der Pferde, die klare Luft, die Stimme des Körpers hören (Kälte!), die Gemeinschaft mit anderen Menschen, die Natur in all ihren nassen Grün- und Brauntönen.
Jetzt genau ist es so, und es ist vollkommen. Und jetzt. Und jetzt. Mit dieser Erkenntnis können wir aufhören zu warten, und einfach unser Leben leben.