Warten auf das normale Leben

April 2020
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„Ich kann es kaum erwarten, bis es wieder normal wird.“ Den oder einen ähnlichen Satz höre ich in letzter Zeit häufiger. Gerade erst hat die Luxemburgische Regierung verkündet, dass die Schule für meine Kinder erst in 5 Wochen wieder beginnt und dann auch nur jede zweite Woche, denn die Klassen werden aufgeteilt. Die ersten Einrichtungen dürfen demnächst wieder öffnen. Kurz: die Exit-Strategie aus dem Corona-Lockdown wird Stück für Stück umgesetzt. Es ist gut, ein (vorläufig) festes Datum zu haben. Noch fünf Wochen, das ist sehr lang für meine Kinder und natürlich auch für uns Erwachsene. Aber es ist gut, eine Perspektive zu haben.

Wenn… dann…

Und da ist er wieder, dieser Gedanke von „wenn … dann“. Noch 5 Wochen durchhalten, dann… Wenn ich nicht wachsam bin, dann schleichen sich auch bei mir diese Gedanken ein von einem „normalen“ Leben, „wenn das mal endlich vorbei ist.“ So funktioniert einfach das Gehirn und das Gewohnheitstier Mensch. Wenn ich aber wach bin, dann wird mir immer wieder sehr bewusst, dass es „normal“ nicht mehr geben wird. Es wird anders sein. Ja, Restaurants werden irgendwann wieder öffnen, Urlaubsreisen werden wieder möglich sein und auch die Großeltern dürfen wieder besucht werden. Wann? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube zu wissen, dass es nicht mehr so sein wird wie früher.

Denn einige Restaurants werden nicht mehr öffnen. Manche Großeltern werden nicht mehr fit genug sein, um wie zuvor die Kinder zu betreuen oder mit ihnen im Garten rumzutollen. Und für Urlaubsreisen wie früher fehlt vielleicht zunächst einmal das Geld oder sogar das Vertrauen. Die ökonomischen Folgen werden irgendwann sichtbarer werden, und einige Sparten werden aus den Umständen ihr Fazit ziehen und ein Umdenken wagen (Digitalisierung, Teletravail, etc.). Viel mehr aber beschäftigt mich, was diese Krise mit den Menschen macht. Therapeuten, die monatelang nicht arbeiten konnten und ihre Patienten alleine lassen mussten, Kinder und Frauen, die zu Hause nicht sicher waren, pflegebedürftige Menschen, die nicht wie zuvor versorgt werden konnten, kranke Menschen, die sich vollkommen isolieren mussten, Familien, die trotz allgemeiner Harmonie spätestens nach drei Wochen dringend mal eine Auszeit bräuchten vom ständigen Trubel, Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, Eltern, die sich aufgerieben haben zwischen Arbeit, Schulaufgaben und Haushalt – und die eben oft keine Ferien über Ostern nehmen konnten, und Betriebe oder Berufssparten, die nicht vom einem Hilfspaket aufgefangen wurden. All das macht etwas mit einem Menschen als einzelnen und mit einer Gesellschaft. Resilienz ist nicht einfach so da, das muss man sich erarbeiten. Vertrauen und Geduld sind Fähigkeiten, die man bewusst stärken muss, damit sie wirken. Akzeptanz auch des Unangenehmen und Mitgefühl für sich und für andere – all das sind Qualitäten, die vielleicht schon da sind aber angesichts hohen Drucks und widriger Umstände geübt werden müssen, damit sie die den Menschen angeborene Negativitätstendenz ausbalancieren können.

Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker

„Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker.“ Diese Erkenntnis aus dem Bereich der Neurowissenschaften beschreibt die Tatsache, dass alles, was wir tun oder worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, sich auf die neuronalen Bahnen im Gehirn auswirkt. Und je öfter wir eine Sache machen oder denken, desto stärker wird dieser besondere Strang – und desto eher wird dieses Verhalten oder Denken zur Grundlage. Um einen anderen Denkweg einzuschlagen, benötigt man Bewusstheit und Verständnis und eben keinen gewohnheitsgetriebenen Autopiloten. Wenn wir also immer nach dem Mittagessen einen Nachtisch essen, dann wird irgendwann automatisch ein Verlangen entstehen, immer wenn wir den Teller geleert haben. Wenn eine bestimmte Person uns regelmäßig auf die Palme bringt, dann wird schon die bloße Nennung des Namens die gleiche Stressreaktion im Körper hervorrufen, als ob sie gerade vor uns stünde. Und wenn ich jeden Abend vor dem Schlafengehen noch schnell die neuesten Nachrichten auf dem Tablet checke, dann wird mein Gehirn rasch das Bett nicht länger mit Schlaf in Verbindung bringen, sondern mit Aufregung und Anspannung.

Je mehr ich also meinen Alltag auf den Gedanken ausrichte, „noch fünf Wochen, dann ist es endlich wieder halbwegs normal“, desto mehr verfestigt sich dieses Denken, desto ungeduldiger werde ich und desto enttäuschter werde ich sein, wenn ich dann nach fünf Wochen feststelle, dass doch alles anders ist. Denn was ist schon „normal“? Und war „normal“ eigentlich gut? Nur weil man etwas immer wieder macht oder es immer schon so gemacht hat, heißt das noch lange nicht, dass es das Richtige ist. Routine ist nicht gleich richtig. Ein langer facebook-Post in Deutschland erzählte von einer Mutter, deren Sohn nun zu Hause aufblüht und endlich wieder lacht, weil ihm die Pause von Schuldruck und Mobbing so enorm guttut und er endlich wieder der sein kann, der er eigentlich ist. Das macht nachdenklich.

Das Leben wird anders sein

Und was auch immer sein wird im Mai, im Juni, im September – es wird anders sein. Vor allem gilt es dann, wachsam zu sein für das, was in den Menschen weiterschwelt. Viele werden nicht zeigen, wie sehr sie gelitten haben oder immer noch leiden. Viele werden mit Verzögerung trauern um verlorene Familienangehörige oder Freunde, um verlorene Zeit, um verlorene Strukturen. Viele werden selbst nicht verstehen, weshalb sie so gestresst sind danach – es ist schliesslich alles wieder halbwegs „normal“. Viele werden in Frage stellen, was vorher war und nun wieder zum Alltag gehören soll. Viele werden erleichtert aufatmen und versuchen, so zu sein wie immer, wobei sie verpassen, dass auch mit ihnen etwas passiert ist in der Zeit. Viele werden versuchen, einfach da anzuknüpfen, wo sie aufgehört haben und sich dabei möglicherweise aufreiben, denn die Welt hat sich weitergedreht.

Jon Kabat-Zinn sagt: „Wir kümmern uns am besten um die Zukunft, indem wir uns jetzt um die Gegenwart kümmern.“ Immer, wenn ich mich daran erinnere, versuche ich darauf zu achten, wo meine Aufmerksamkeit liegt. Ja, die Gedanken gehen immer wieder in die Zukunft, wenn „die Schule wieder auf ist“ und wenn „die Oma wieder mit den Kindern spielen kann“. Aber ich verweile dort nicht, sondern versuche immer wieder, bewusst das zu stärken, was mir jetzt hilft: Selbstfürsorge, genug Pausen, Akzeptanz, Mitgefühl für mich und für andere, Vertrauen in die Praxis und in mich, oder auch Verbindung zu Natur und Mensch. Und vor allem versuche ich, den Menschen mit Wachheit zu begegnen, die jetzt da sind und meine volle Aufmerksamkeit brauchen. Ich weiß nicht, was kommt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich und wir alle „danach“ Kraft brauchen werden und Resilienz, dass viel Geduld und Mitgefühl notwendig sein werden, dass Dankbarkeit für das Gute und Lebendige und Freude für das Schöne nützliche Qualitäten sein werden, die man schon jetzt stärken kann.

Worauf möchten Sie die Aufmerksamkeit fokussieren? Jetzt, wo das Leben stattfindet?

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