Gerade habe ich meiner Tochter die Bedeutung des Wortes „Komplexität“ erklärt. Ja, das Leben ist komplex. Es ist vielfältig und vielschichtig. Es ist voller Geschichte, eingewoben in unseren Körper, unsere Seele, unsere Erinnerungen. Es ist voller Überraschungen und voller vorhersehbarer Momente, in welchen unser Geist sagt: „Das war ja klar, dass es so kommt.“ Es ist unaufhaltsam und nach vorne ausgerichtet, und doch holt uns immer wieder die Vergangenheit ein.
Seltsam, dieses „lebendig sein“
„Seltsam, im Nebel zu wandern!“, schreibt Hermann Hesse in einem Gedicht, welches Millionen von Schüler*innen im Laufe ihrer Schulzeit interpretieren mussten. „Jeder ist allein.“ heißt es weiter, es geht um die Einsamkeit inmitten all der anderen Lebewesen. Rückwärts und übertragen gelesen geht es beim „im Nebel wandern“ natürlich um das Leben. Es geht um die Höhepunkte des Lebens, mit Freunden und Leichtigkeit. Und dann geht es um die Zeit, in welchem die eigene Einsamkeit überhandnimmt. Die meisten werden es kennen, diese Momente von Einsamkeit inmitten einer Gruppe von Menschen. Sei es bei der Arbeit, in der Partnerschaft, auf einem Geburtstagsfest, sogar an Weihnachten. Und dann gibt es wieder Momente des größten Glücks und Zufriedenheit, von ausgelassener Heiterkeit und Miteinander. Leben ist ein ständiges Auf und Ab und alles gehört dazu, das Licht und das Dunkel. Und doch strebt unser Geist danach, nur das Licht als „richtig“ anzusehen. Wir sind immer auf der Suche nach dem nächsten Licht, dem nächsten „yes!“, dem nächsten Dopamin-Kick. Leider suchen wir oft falsch, nämlich im außen, im Konsum, im Haben und Bekommen, und wir interpretieren den kurzen Moment von Dopamin-getränkter Freude als Glück und als den Sinn des menschlichen Lebens. Erst spät(er) erkennen wir, dass all das nicht wirklich glücklich macht. Seltsam ist es, das Leben als Mensch.
Keiner ist allein
Ich widerspreche Hermann Hesse und sage: Keiner ist allein. Oder besser ausgedrückt: wir sind alle verbunden in dem Streben nach Zugehörigkeit und anhaltender Glückseligkeit. Und wir sind alle verbunden in unserem regelmäßigen Empfinden: „Ich bin allein.“ Wir sind alle verbunden in unserem Streben danach, unser Leben so angenehm wie möglich zu machen und uns gut zu fühlen. Wie sich dieses Streben äußert, ist ganz individuell. Aber genau das führt uns oft in die Einsamkeit, denn wir werten die anderen oder uns selbst auf oder ab in unserem unablässigem Vergleich mit dem Leben anderer. Das ist das Paradox: Eigentlich sind wir alle miteinander verbunden in unserer Menschlichkeit und in unseren Versuchen, das komplexe Leben zu leben. Und genau das macht uns immer wieder einsam. Solange wir das nicht erkennen können, werden wir weiter leiden und weiter suchen.
Sich nicht überfordern
Der Beginn eines neuen Jahres ist immer geprägt von Veränderung, Aufbruch, Neuausrichtung, ob gewollt oder ungewollt. Wegen der Komplexität des Lebens kann es sich immer wieder auch überwältigend anfühlen, was wir vermeintlich oder tatsächlich verändern sollten oder möchten. Dann sieht der Geist diesen riesigen Berg vor sich und das antizipierte bessere Leben dahinter – und verzweifelt. Zu viele Baustellen sind es, zu vieles, was im Argen liegt. Schlaf, Bewegung, Ernährung, Work-Life-Balance, Beziehungen, Natur, Lebensfreude, Gesundheit, Freundschaften, Arbeitsanforderungen, … Wo soll ich nur anfangen? Das kriege ich ja nie hin! Und dann tun wir es wieder: wir schauen auf andere und vergleichen, was diese alles hinbekommen oder sich vorgenommen haben. Und natürlich sieht unser Tunnelblick oft nur, was bei den anderen gut läuft oder was diese bewusst von sich zeigen (nämlich ihre Erfolge), und bei uns steht im Vordergrund, was wir selbst nicht hinbekommen. In Momenten des Vergleichs blendet unser Gehirn aus, dass das Leben viel komplexer ist als das, was wir sehen. Im Guten wie im Schlechten – Vergleiche sind nicht hilfreich. Inspiration kann uns Antrieb geben, aber ein Vergleich kann nur schiefgehen. Jeder muss sein eigenes Leben leben, mit seinem eigenen Körper, in seinen eigenen Lebensumständen, mit seiner eigenen Geschichte.
Und hier ist es essenziell, sich nicht zu überfordern. Genauso wie wir in der Vergangenheit Dinge angehäuft haben, Themen sich gruppiert haben und der Körper sich nach und nach verändert hat, so können wir auch nicht alles gleichzeitig angehen und auf allen Baustellen gleichermaßen arbeiten. So schaffen wir kein stabiles Fundament für das Haus, auf keiner der Baustellen. Früher oder später wird alles zusammenbrechen oder gar nicht erst gebaut werden, denn wir geben auf. Es wird zu viel sein. Das Leben ist komplex und so ist auch die innere Geschichte, weshalb wir überhaupt da sind, wo wir jetzt sind und wir nun den Wunsch nach Veränderung haben.
Sei klug und realistisch: nur eine Baustelle
Was auch immer du dir vornimmst für das neue Jahr, sei klug und realistisch. Suche dir für den gegenwärtigen Monat eine einzige Baustelle aus, auf der du dich zunächst umsiehst und dann langsam anfängst, das Fundament für ein neues Gebilde zu legen. Stein für Stein, Tag für Tag. Mit Sorgfalt, Neugierde und Beständigkeit. Und wenn du an einem Tag einmal nicht arbeiten kannst oder willst, dann mache eine Pause und gehe am nächsten Tag wieder zur Baustelle. Vielleicht hat deine aktuelle Baustelle den Titel „Bewegung“. Dann versuche, jeden Tag hier tätig zu werden. An einem Tag gehst du vielleicht spazieren, weil die Sonne so einladend ist. An einem anderen Tag suchst du dir ein Yoga-Video im Internet heraus. Oder du spielst aktiv Tennis auf der Playstation, gehst mit dem Hund raus oder triffst dich zu einem Walking Meeting. Es geht nicht um die jeweilige Dauer, es geht vor allem um die Regelmäßigkeit. Und wenn du das Gefühl hast, du hast eine gewisse Sicherheit gefunden – oder, wenn es dir einfacher fällt, zum nächsten Monatsbeginn – gehst du zu einer neuen Baustelle und fängst dort an. Vielleicht heißt diese „Beziehungen“ oder „Natur“? Die erste Baustelle lässt du dabei nicht aus den Augen, aber das Arbeiten dort wird dir nun einfacher fallen und weniger mühselig sein, denn du weißt jetzt, wie es geht. Überfordere dich nicht und mache eins nach dem anderen. Setze dich nicht unter Druck, du hast den Rest deines Lebens Zeit dafür. Und blicke nicht zu viel auf die Bauwerke der anderen, sie sind nicht relevant und ganz oft mit einer geschönten Fassade versehen. Baue dir dein eigenes Leben. Stein für Stein.
„Der Weg durch die Schwierigkeiten ist immer ein Schritt nach dem anderen, ein Atemzug nach dem anderen, ein Tag nach dem anderen.“ Jack Kornfield