(Un)Sichtbar

April 2022
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Die Augen sind für die meisten Menschen das stärkste Sinnesorgan. Probiere einmal, in den Körper hineinzuspüren: den Kontakt zum Boden spüren, das Atmen wahrnehmen, Temperatur. Schließe dabei abwechselnd die Augen und öffne sie wieder. Spürst du den Unterschied? Wo fällt es dir einfacher, dich auf dich und auf deine Empfindungen zu fokussieren?

Wahrnehmung

„Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wir sehen die Welt, wie wir sind.“ Das ist ein bekannter Spruch aus dem 2. Abend des MBSR-Kurses zum Thema Wahrnehmung. Wenn ich schlecht gelaunt bin, dann fällt mir direkt auf, dass die Wäsche immer noch nicht weggeräumt ist. Wenn ich grundsätzlich ängstlich bin, dann sieht der Wald auch tagsüber doch etwas bedrohlich aus. Wenn ich Rückenschmerzen habe, dann rege ich mich schnell darüber auf, dass im Supermarkt die Lieblingsschokolade so hoch im Regal liegt. Unser Blickfeld ist eingeschränkt – wir sehen immer nur dort, wo unsere Augen hinschauen. Unser Wahrnehmungsfeld ist ebenfalls eingeschränkt, aber das ist uns oft nicht bewusst. Das übersehen wir schnell.

Kürzlich las ich einen Artikel über die Ohrfeige eines Schauspielers auf offener Bühne. Mittlerweile ist das Bild dieser Szene in alle Welt verteilt, und auch ich habe es live und in Wiederholung gesehen. Wir sehen etwas und wir urteilen. So sind wir gestrickt. Selbstverständlich ist es eine Unmöglichkeit, jemand anderen zu schlagen. Es muss immer eine andere Lösung geben, um Grenzen zu ziehen, als handgreiflich zu werden. Diese Szene machte auch wieder deutlich, dass wir Menschen – ungeachtet von Status, Macht und Geld – doch alle gleich sind, getrieben von unseren innersten Wünschen und Bedürfnissen, die im Kern gar nicht so unterschiedlich sind. Und manchmal kommt das Dinosauriergehirn in einem Menschen durch und wir sehen ein Alarmsystem in Aktion. Wichtig ist aber auch, was wir nicht gesehen haben: die emotionale Verletzung, ausgelöst durch unbedachte Worte oder einen schlechten Witz.

Was wir nicht sehen können

Wahrnehmung beschäftigt mich schon eine ganze Weile, zuletzt habe ich eine Weiterbildung zum „Ersthelfer für mentale Gesundheit“ gemacht. Wenn sich jemand ein Bein bricht, dann bekommt er einen Gips, ein paar Krücken und wird entsprechend in der Schule oder bei der Arbeit unterstützt. Ich weiß noch, wie zu Schulzeiten diese „Glücklichen“ einen Schlüssel für den Aufzug bekamen und wir anderen ganz neidisch waren, weil uns keiner den schweren Schulranzen abnahm. Oder eine Erkältung schickt uns auf das Sofa und wir überlassen es dem Partner, die Einkäufe zu erledigen, während wir die Krankheit auskurieren und Bekannte uns Nachrichten mit Genesungswünschen schicken. Was ist mit den Krankheiten, die wir nicht sehen können? Was ist mit Depression, mit Abhängigkeiten, mit Angststörungen, mit unsichtbaren Krankheiten? Noch immer gibt es dieses Stigma und die Unfähigkeit der Umstehenden, mit so etwas umzugehen. Noch immer ist da diese vorschnelle Bewertung, was „krank“ und was „gesund“ ist. Deshalb wird immer noch zu wenig darüber gesprochen, eben weil vorschnell gut gemeinte aber nicht hilfreiche und oft auch kontraproduktive Ratschläge kommen.

Nur weil man etwas nicht sehen kann, heißt das nicht, dass es nicht weniger schlimm oder im Alltag herausfordernder oder gar belastender ist als offensichtliche physische Handicaps. In meinem Umfeld gibt es eine Person, die aufgrund einer Autoimmunkrankheit zahlreiche Begleiterscheinungen hat. Rückenschmerzen, Fatigue, Kopfschmerzen, etc. Das aber kann man nicht sehen, nur die Gehhilfen werden gesehen und wahrgenommen. Und damit scheint sie ja gut zurechtzukommen, sie hat sich angepasst. Das Innere ist nicht zu sehen, der chronische Schmerz und die Auswirkungen auf die Lebensqualität nicht wahrnehmbar.

Wir haben mehr als fünf Sinne

Wir verlassen uns im Alltag so auf unsere Augen und verpassen dabei ganz schnell, dass wir noch eine Menge anderer Sinne haben und es noch so viel mehr zu entdecken gibt als das, was direkt erfahrbar ist. Dr. Dan Siegel, Neurowissenschaftler und Psychiater, hat ein Model vom „Rad des Gewahrseins“ entwickelt.

Das Rad besteht aus vier Bereichen:

  1. Die fünf Sinne (riechen, tasten, schmecken, hören, sehen)
  2. Der sechste Sinn: die Empfindungen des Körpers
  3. Der siebte Sinn: mentale Aktivitäten wie Gedanken und Emotionen
  4. Der achte Sinn: Verbundenheit mit dem Außen.

Die Nabe ist das Gewahrsein, offen, friedlich, klar und empfänglich – quasi der achtsame innere Beobachter, der alles wahrnehmen kann. Der achte Sinn, so scheint mir, wird immer wieder vernachlässigt, obwohl es darauf im gemeinsamen Menschsein vor allem ankommt: sich verbunden fühlen, sich interessieren, sich zuwenden.

Mit der Verbundenheit gehen wir über das rein Sinnliche hinaus. Wir machen uns Gedanken, ob unsere Worte und Taten einen anderen verletzen könnten und sagen daher nicht alles, was uns in den Sinn kommt. Wir spüren, in welcher Stimmung das Gegenüber gerade vor uns steht und was er oder sie gerade braucht. Wir geben Unterstützung in Wort, Tat oder schweigender Präsenz. Wir machen uns immer wieder bewusst, dass wir nicht alles wissen und schon gar nicht wirklich nachempfinden können, was in einem anderen gerade vorgeht. Wir erinnern uns daran, dass es mehr gibt als unser Auge sieht und unser Ohr hört, und dass ganz oft innere Prozesse ablaufen, die wir gar nicht nachvollziehen können. Letzteres ist auch nicht unsere Aufgabe – wir haben ja unsere eigenen inneren Prozesse zu erforschen – wir können aber offen und geduldig bleiben bei dem, was gerade hier ist.

Das Wahrnehmungsfeld erweitern

„Wir sehen nur mit dem Herzen gut“, sagt der kleine Prinz. Wenn wir anfangen, das Wahrnehmungsfeld zu erweitern über das hinaus, was offensichtlich und wortwörtlich unübersehbar ist, dann können wir davon nur profitieren. Jeder einzelne von uns weiß, dass wir viel mehr sind, als wir nach außen zeigen oder als sichtbar ist. Gestehen wir das doch auch mehr und mehr den anderen Menschen zu. Ein Wutausbruch meiner Tochter ist niemals nur das: ein Wutausbruch. Da steckt jedes Mal so viel mehr dahinter an Gedanken, tiefsitzenden Verletzungen, bedrückenden Erinnerungen, Ängsten vor der Zukunft, Leistungsdruck etc. Geben wir unseren Herzen Augen und lassen wir zu, dass unser Wahrnehmungsfeld immer weiter werden darf, damit es auch das Unsichtbare miteinschließt.

„Erinnere dich daran, dass jeder, den du triffst, vor etwas Angst hat, etwas liebt und etwas verloren hat.“ - H. Jackson Brown, Jr.

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