Sitzen wie ein Berg

June 2020
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Das Leben fühlt sich seit einiger Zeit wieder an wie Übergang, wie eine Zwischenphase. Nach wochenlangem Lockdown, bedingt durch die Corona-Pandemie, und der kompletten Umwälzung des ganzen bekannten Lebens, ist nun die Phase der Lockerung, der Schulöffnung, der Urlaubsplanung und der zaghaften Restaurantbesuche. Alles ist irgendwie unfertig, provisorisch, und so wird es noch eine ganze Weile sein. Der Kopf eilt immer wieder voraus, in die Zeit „nach den Ferien“, hält sich fest an dieser scheinbar linearen Entwicklung hin zu alter Gewohnheit, gestärkt von niedrigen Zahlen und vollen Marktplätzen.

Nebenwirkungen und Folgen der vergangenen Wochen

Das Problem: Entwicklung verläuft meist nicht linear. Und der Kopf ist nicht hier. Das ist menschlich, denn Übergang und Zwischenphase lösen ein Gefühl von Bodenlosigkeit aus, von fehlender Stabilität. Und das mag das Kontrollsystem im Gehirn nicht so gerne, das lieber die Zügel in der Hand hält und wissen will, wohin die Reise geht. Also verabschiedet sich die Aufmerksamkeit immer wieder vom hier und jetzt, das so wenig greifbar ist. Zum Zeitpunkt des Schreibens sollte ich eigentlich mit 150 anderen Praktizierenden in einem wunderschönen Raum in Salzburg sitzen, neben mir Freunde und Arbeitskollegen, vor mir Jon und Will Kabat-Zinn, durch das offene Fenster die Alpen in ihrer ganzen Majestät, alle in äußerer Stille in einem Retreat vereint, jeder zusammen und alleine auf seiner eigenen Reise.

Stattdessen bin ich hier und spüre täglich meinen von den letzten Monaten erschöpften Körper, meinen strapazierten Geist und meine dünnhäutige Gefühlslage. Es war viel. Es ist viel. Arbeit, Organisation, Gedanken und Pläne, anstrengende Organisation und ein paar Tage später alles wieder ändern müssen, emotionale Lasten von anderen tragen und die eigenen Emotionen regulieren, Freude, Spaß und viel Dankbarkeit, ganz viel Geben, unerwartet Bekommen, Angst, Verspannung, zu wenig Zeit für sich, zu viele strapazierte Nervensysteme in einem Haus.

Schritt 1: akzeptieren, dass es schwierig ist

Akzeptanz ist die Qualität der Achtsamkeit, mit der fast alle meine Kursteilnehmer die meisten Schwierigkeiten haben. Akzeptanz, ist das nicht Resignation? Das kann doch nicht der richtige Weg sein! Genau wie die Bodenlosigkeit fordert auch die Akzeptanz die Gewohnheit des Geistes heraus, die Kontrolle haben zu müssen, um sich gut und mächtig zu fühlen. Aber erst, wenn wir aufhören, gegen die Realität zu kämpfen, können wir uns mit klarem Kopf darum kümmern, wie wir mit dem umgehen, was eben gerade hier ist. Und jetzt gerade ist es schwierig und herausfordernd, immer noch. Mein Körper darf müde sein. Mein Geist darf überfordert sein. Meine Gefühlslage darf angespannt sein. Hätte ich es gerne anders? Ja, klar! Aber es wäre fatal, die Begleiterscheinungen und Folgen zu leugnen, die eine so einschneidende Erfahrung wie die der vergangenen Wochen und Monate hervorruft. Und ich wage zu behaupten, dass die Folgen für Seele und Geist noch monate- oder gar jahrelang die Menschen begleiten werden.

Schritt 2: entscheiden, was jetzt hilfreich ist

Akzeptanz ist der erste Schritt: So ist es. Jetzt kann ich mich darum kümmern, was nun sinnvoll oder hilfreich ist. Ehrlich gesagt, weiß ich das gerade gar nicht so genau. Ich ertappe meinen Kopf immer wieder dabei, Pläne zu schmieden, Phantasien auszumalen, Hoffnung zu hegen. Das ist sehr menschlich und auch nicht falsch, so lange ich nicht in den Gedanken hängenbleibe. Dieses Gefühl der Zwischenphase ist sehr unangenehm, und ich verfalle immer wieder ins Tun und Organisieren, da inmitten von Kindern, Hausaufgaben und Arbeit kaum Zeit und Raum bleibt für Reflektion. Die vergangenen Wochen haben die verschiedensten Erfahrungen ermöglicht. Viele berichten von erstaunlicher Ruhe, viel Natur und Lesen und willkommener Entschleunigung zu Hause. Andere versanken im Trubel von neuer Arbeitsorganisation, von Angst, von Hausaufgaben- und Kinderbetreuung. Wie fühlte es sich bei dir an?

Zuflucht finden im Hier und Jetzt

Wie auch immer es war und ist, inmitten des ständigen Wechsels ist es wichtig, immer wieder auf das zu schauen, was stabil und wahr ist. Der gegenwärtige Moment ist so, wie er ist. Der Körper ist so, wie er gerade ist. Der Atem ist so, wie er gerade ist. Das nennt sich Zuflucht finden im Hier und Jetzt, in der Realität des gegenwärtigen Augenblicks. Bei so vielen Variablen und Unsicherheiten im Außen kann es sehr hilfreich sein, immer wieder das Zeitlose im Innen aufzusuchen. Das klingt sehr abstrakt, besonders wenn man noch keine regelmäßige Achtsamkeitspraxis hat. Eigentlich aber ist es ganz einfach: Es bedeutet, immer wieder innezuhalten und die Lebendigkeit, das Atmen und den Körper zu spüren. Die Füße auf dem Boden spüren, die Geräusche der Gegenwart wahrnehmen, vielleicht auch bemerken, welche Gedanken gerade durch den Kopf reisen und welche Gefühle im Körper zu spüren sind. Einfach sein, in diesem Augenblick. Und in diesem.

Sitzen wie ein Berg

Achtsamkeit ist nicht schwer, aber es ist schwierig, sich daran zu erinnern. Auch ich habe immer wieder Schwierigkeiten, mich nicht stundenlang im Denken und Bewerten und Wünschen zu verfangen. Es gibt allerdings eine Meditation, die das innere Gefühl von Stabilität, Ruhe und Unerschütterlichkeit stärken kann: die Bergmeditation. Sitzen wie ein Berg, majestätisch und fest, und sich bewusst machen, dass weder Sturm noch Bergsteiger noch wechselnde Jahreszeiten den Kern eines Berges erschüttern können. Ich habe eine Meditation aufgenommen, mit deren Praxis wir diese Qualitäten eines Berges kultivieren und in uns gießen können. Hier ist der Link zu meinen Meditationen. Immer wieder aus dem Tun aussteigen und einfach nur sein und sitzen, sitzen wie ein Berg. Denn „worauf wir uns fokussieren, das wird stärker“. Vielleicht möchtest du es ja mal ausprobieren.

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