„Authentisch sein“ ist gefragt. Das war schon immer so, aber die Verbreitung der sozialen Medien und die Filterfunktionen für Bilder und Videos haben das sicherlich verstärkt – und gleichzeitig erschwert. Jeder will eigentlich er/sie selbst sein, und doch das beste Bild abgeben. Das Bedürfnis dazuzugehören, ist tief verwurzelt in der menschlichen Art. Das ist nachvollziehbar, denn ein Mensch, der nicht dazugehörte und vom Stamm verstoßen wurde, der hat nicht überlebt. Dazugehören = überleben. Nicht angenommen werden = Todesurteil.
Wir alle wollen dazugehören
Biologisch sehnen wir uns also danach, angenommen und eingebunden zu werden, gesehen zu werden. Dieses Ur-Bedürfnis äußert sich vielfach so, dass der Eindruck entsteht, wenn ich nur hübsch/schlank/unterhaltsam/schlau/cool/reich genug bin oder zumindest den Anschein erwecke, dann werde ich gemocht. „Werde ich gemocht?“ ist für viele existentiell geworden in ihrer Selbstwertschätzung. Die Folge: sich verbiegen, anpassen, verändern wollen, eine Rolle spielen, Erwartungen erfüllen. Diese Strategien machen absolut Sinn. Das Problem: Sie machen nicht glücklich und im schlimmsten Fall können sie alles Lebendige ersticken.
Was ist dann Authentizität? Wer bin ich überhaupt? Wo ist es wichtig, meine eigene Meinung zu haben und auch zu äußern, und wo ist es sinnvoller, mich anzupassen? Und – wenn ich so bin, wie ich bin – werde ich dann gemocht? Wo ist mein Platz und wie kann ich mir treu bleiben?
Selbstfindung zwischen Likes und Filtern
Es gibt hier keine einfachen Antworten. Besonders im Teenageralter sind die Menschen auf der Suche, und es ist sehr problematisch, dass gerade in dieser Zeit – und in Pandemie-Zeiten noch verstärkt – die sozialen Medien so dominant im Alltag sind. Die ständige Fremd-Bewertung und Selbstdarstellung verhindert oft den so wichtigen Prozess der Selbstfindung. Wie soll ich herausfinden, wer ich bin, was ich kann und was ich mag, wenn ich ständig von perfekten Bildern verunsichert und von emotionalen Stürmen und Gruppenreibereien umhergewirbelt werde? Dieser unbedingte Drang dazuzugehören, erschwert das Erspüren der eigenen Wahrheit.
Ich bin kein Teenager mehr, aber ich – und sicherlich viele andere Erwachsene auch – kennen dieses Verlieren in Rollen, in Erwartungen und in Vorstellungen von Perfektion nur zu gut. Meine Tür zu mir habe ich mit Hilfe der Achtsamkeitspraxis gefunden. Schritt für Schritt habe ich bemerkt, was eine Rolle ist und was mein eigenes Empfinden; was eine Erwartung ist und was mein eigentliches Bedürfnis; und was eine Vorstellung ist und was meine tatsächliche Fähigkeit und besonders die Grenzen meiner Fähigkeiten. Authentisch sein, das bedeutet für mich, immer mal wieder zu meinen Kindern zu sagen: „Ich weiß es nicht. Das muss ich erst nachschauen.“ Das ist das Anerkennen meiner körperlichen Möglichkeiten und die Veränderungen des Körpers zu akzeptieren. Das ist, in einem Achtsamkeitskurs auch mal zu sagen: „Ich freue mich sehr auf diesen Kurs. Und gerade spüre ich da auch Nervosität.“ Es bedeutet auch zu erkennen, dass da immer wieder Unsicherheit und Angst vor der Zukunft sind, und dann wieder Momente voller Vertrauen und Dankbarkeit. Es bedeutet, berührbar zu sein. Es bedeutet, lebendig zu sein.
Leben kommt von Lebendigsein
In seinem wunderbaren Buch „Nach innen lauschen“ schreibt Richard Stiegler:
„Leben kommt von Lebendigsein. (…) Ein Mensch ohne Herzschlag, ohne Atmung, Denken und Fühlen, ist kein Mensch mehr. Ein menschlicher Körper ohne Leben zerfällt. Eine Beziehung ohne Interaktion ist keine Beziehung. Ein Fußballspiel ohne Spieler, die miteinander agieren, hört auf, ein Spiel zu sein. Und sogar ein Computer verliert seinen Sinn, wenn niemand daran arbeitet.“
Ich verstehe authentisch sein als lebendig sein, und genau wie man das Leben in jedem Moment im Körper spüren kann (im Atem, im Herzschlag, in der Temperatur, im Kribbeln, und ja, auch im Kopfweh), so kann man es spüren, wenn man authentisch ist. Es fühlt sich oft irgendwie leicht an, spielerisch, mühelos. Es fühlt sich stimmig an. Es gibt natürlich immer wieder Ort und Zeit für eine Rolle, für ein Anpassen, für ein Zurückstecken der eigenen Bedürfnisse. Die Sonne dreht sich nicht nur um uns selbst. Lebendigsein äußert sich besonders in der Verbindung, in der Beziehung zu Dingen, Menschen und der Welt.
Die wichtigen Fragen stellen
Je mehr man seinen eigenen Charakter und seinen eigenen Kern kennenlernt – auf welche Art und durch welchen Weg auch immer – desto befriedigender und stimmiger wird sich das Leben anfühlen. Es lohnt sich, immer mal wieder die Frage „Werde ich gemocht?“ zu ersetzen durch „Wer bin ich? Was mag ich? Und mag ich mich?“ und seinen eigenen Weg entlang dieser Fragen zu gehen – ob mit oder ohne Kurs, Begleitung oder Anleitung. Authentisch sein strahlt aus, Lebendigkeit strahlt aus, und so wird man fast automatisch seinen Platz im Ganzen finden. Sich selbst zu sein reicht aus, und eigentlich gibt es kein größeres Geschenk für die Gemeinschaft, als der Mensch zu sein, der man eigentlich ist.