Nur dieser Moment

June 2024
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Wir denken meist zu groß, zu weit, zu umfangreich. Ein Großteil unseres Alltags besteht aus Planung der Zukunft, in der Hoffnung, dass wir auf diese Weise möglichst viel unseres Lebens unter Kontrolle haben. Das ist natürlich eine Illusion. Jeder, egal welchen Alters, hat schon erlebt, dass sich das Leben nicht um unsere Pläne schert und es immer wieder anders kommt. Wenn das zu oft vorkommt, dann setzt der Frust ein oder die Verzweiflung oder im schlimmsten Fall die Resignation.

Es geht immer nur um diesen Moment

In meinen Kursen sage ich oft, dass es immer nur darum gehe, den nächsten Moment ein kleines bisschen besser zu machen. Natürlich ist das nicht alles, aber es kann helfen, sich von seinen großen Erwartungen zu lösen. Achtsamkeit ist die Kunst, das Leben zu leben, sowie es ist. Und das Leben findet immer hier und jetzt statt. Nur hier und jetzt haben wir die Chance, Einfluss zu nehmen und in die Selbstwirksamkeit zu kommen. Selbstverständlich müssen und werden wir alle unseren Alltag weitgehend planen und organisieren, die Maßeinheit „Zeit“ ist hierbei enorm wichtig – oftmals zu wichtig. Und doch können wir uns immer wieder daran erinnern: es gibt nur jetzt. Ob uns das gefällt oder nicht, es gibt nur diesen Moment. Und dann diesen. Und diesen.

„Wie ist es jetzt?“

„Wie ist es jetzt?“ Diese Frage wiederhole ich Mantra-artig immer wieder, aber genau darum geht es. Mit der Haltung der Achtsamkeit – interessiert, wach, zugewandt – schauen, was dieser Moment gerade beinhaltet. Vieles davon wird geplant sein: ich sitze jetzt im Zug, weil ich zur Arbeit fahren muss. Dabei kann ich schauen, wie es mir gerade körperlich geht, was meine Gedanken gerade für Geschichten spinnen und wie meine Stimmung oder Gefühlslage ist. Oder ich gehe gerade zur Schule, um die Kinder abzuholen und spüre die Bewegung des Körpers, den Zeitdruck (= Gedanken) und die damit verbundenen Gefühle. Oder ich unterhalte mich mit meiner Arbeitskollegin und bemerke, dass es mir im Büro etwas fröstelt, welche Themen gerade im Hinterkopf mitlaufen und was sonst noch da ist. „Wie ist es jetzt?“

„Und was mache ich jetzt?“

Da es ja in meinen Kursen meist darum geht, wie Achtsamkeit uns vor allem in schwierigen Situationen helfen kann, verwende ich meist Beispiele aus dem Alltag, die nicht in die Kategorie „ok“ oder „angenehm“ fallen. Und hier geht es darum, den nächsten Moment etwas angenehmer zu machen. Das ist ja der Punkt bei der Stressbewältigung: ich kann nicht den schwelenden Konflikt mit einer anderen Person verhindern, aber ich kann mir selbst dabei helfen, im nächsten Streitgespräch fokussierter und klarer meinen Standpunkt zu vertreten. Ich kann auch die vielen kleinen Momente meines Alltags anders angehen, auf die ich nicht so viel Lust habe. Wie gehe ich damit um, dass dieses Meeting auch nach zwei Stunden immer noch kein Ende zu finden scheint? Was tue ich, wenn ich einen Berg Wäsche aufhängen muss und überhaupt keine Lust dazu habe? Wie kann ich für mich sorgen, wenn ich an der Supermarktkasse stehe und es einfach nicht weitergeht? Wie gehe ich um mit Langweile, Genervtheit und Unwohlsein?

Aus diesem klaren Moment von Bewusstwerden („so ist es gerade“) entsteht die Entscheidung zur Handlung: das mache ich jetzt. Und diese Handlung ist im besten Fall getränkt von Selbstfürsorge, Präsenz und Miteinbeziehung der gegebenen Umstände.

- Ich sitze seit zwei Stunden in dem Meeting, werde müde und unkonzentriert und kann feststellen, dass ich etwas frustriert bin und zunehmend rastlos werde. Da ich aber weder das Meeting beenden noch einfach aufstehen und rausgehen kann, bleibt für mich nur eines: den nächsten Moment ein kleines bisschen besser machen. Ich könnte mir etwas zu trinken nehmen, den Oberkörper oder die Beine durchstrecken, einen tiefen Atemzug nehmen um wieder etwas wacher zu werden, selbst das Wort ergreifen, meine wertenden Gedanken wahrnehmen und schauen, welche losgelassen werden können, etc.

- Ich muss eine Waschladung voll Kleidung aufhängen und habe jetzt wirklich keinen Nerv dafür. Es muss aber gemacht werden, also nehme ich mein Handy mit und suche mir schöne Musik heraus oder höre mir währenddessen eine inspirierende Podcast-Episode an.

- Auf dem Weg zur Schule unter Zeitdruck spüre ich die warme Luft auf der Haut und freue mich darüber, dass der Sommer endlich kommt. Ich halte bewusst Ausschau nach bekannten Gesichtern und nicke ihnen zu.

- Alleine mit Kopfweh und Übelkeit im Bett, während meine Familie einen lange geplanten Ausflug macht, sorge ich dafür, dass alle Geräte ausgeschaltet sind und mich keiner in der kommenden Stunde stört, ich dimme das Licht und ziehe mir die Decke ans Kinn. Ich nehme wahr, dass ich enttäuscht und traurig bin und übe mich in Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge, mit Dankbarkeit für das Bett, das mir in einem solchen Moment zur Verfügung steht.

Wir haben immer nur jetzt

Es geht immer nur um den nächsten Moment und wie wir diesen so leben, dass es uns ein kleines bisschen besser geht. Denn das Leben ist viel zu komplex, um die großen Probleme im Ganzen zu lösen. Wir haben wirklich immer nur jetzt. Und wenn das Jetzt uns manchmal enorme physische oder emotionale Schmerzen bereitet, auch dann gilt: ich muss nur diesen Moment überstehen. Und dann den nächsten Moment, mit so viel Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl wie möglich. Das kann also auch sehr tröstlich sein: wirklich nur einen Schritt nach dem anderen machen. Mehr geht nicht und mehr muss auch nicht gehen. Denn was wir jetzt machen, hat eine Auswirkung auf danach. Das wiederum beeinflusst, was noch später kommt. So gelangen wir die Kontrolle über unser Leben zurück, einen Augenblick nach dem anderen.

 

Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.
Marie von Ebner-Eschenbach

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