Als vor fast einem Jahr hier die Corona-Krise begann und der erste Lockdown das ganze bis dahin bekannte Leben auf den Kopf stellte, spürte ich in mir den Drang, etwas zu „tun“. Ich bin nicht Krankenschwester, Ärztin, Forscherin, Supermarktkassiererin oder Briefträgerin. Ich war einfach zu Hause, mit den Kindern und meinem Mann und tat das, was in dem Moment am meisten helfen sollte: nichts. „Ist das genug?“ fragte ich mich. Und da die Antwort „nein“ lautete, bot ich kostenlose Online-Meditationen, Weiterbildungen und Austauschgruppen an. Das war mein kleiner Beitrag, der von ein paar wenigen angenommen wurde.
Ich und die große weite Welt
Seitdem ist viel passiert, und seit Monaten gibt es diesen wertungsbehafteten Begriff der „System-relevanten“ Berufe. Die Welt dreht sich weiter, Black Lives Matter, US-Wahl und Sturm auf das Kapitol, Brexit, zusammenbrechende Gesundheitssysteme in vielen Ländern, Existenzen am Abgrund, Klimawandel, und inmitten ich in meiner kleinen Welt. In dieser Welt, in der ich mich manchmal sehr isoliert fühle und immer wieder gesagt und gezeigt bekomme, dass ich mich doch nicht so viel mit diesen “weit entfernten” Themen beschäftigen solle. Vergangene Woche gab es eine Online-Zusammenkunft mit Jon Kabat-Zinn und hunderten Praktizierenden aus der ganzen Welt. Die erste Frage drehte sich um soziale Ungerechtigkeit, um Klimawandel, um den Einfluss auf die Politik, um den eigenen Beitrag im großen Ganzen, und da war sie wieder, die Frage: „Ist das, was ich tue, genug?“ In Gegenwart von aktiv Engagierten in diesen Bereichen, besonders vom amerikanischen Kontinent, fühlte ich mich ausgesprochen nichtig und allein. Bis die zweite Frage kam: „Wie können wir unsere Achtsamkeitspraxis dazu verwenden, die Perspektive zu wahren – wie klein auch immer wir unseren Einfluss einschätzen mögen?“
Ich und die unmittelbare Welt
Szenenwechsel. Kürzlich hatte meine Tochter einen fürchterlich schwierigen Tag voller Traurigkeit, Angst, Überforderung und Verunsicherung. Das äußerte sich, dank des bei Kindern noch nicht voll ausgeprägten Gehirns, in lautstarkem Angriff auf alles und jeden. Es war eine Achterbahnfahrt, für alle Beteiligten, und mehr als einmal flossen Tränen. Ja, das Toleranzfenster ist in den letzten Wochen und Monaten bei allen sehr geschrumpft. In mir wechselten sich die verständnisvolle Mutter, die wütende Furie und das völlig überforderte Kind ab, wobei erstere immer wieder zum Vorschein kommen und sich besonders am Ende des Tages bemerkbar machen konnte. Und dann stand plötzlich nach Stunden des Kampfes statt des kindlichen Höhlenmenschen wieder meine Tochter vor mir, erschöpft, dankbar, liebevoll verbunden und erschrocken über das, was passiert war.
„Ist das, was ich tue, genug?“
Solche Momente machen deutlich, dass ein unermesslicher Schatz darin liegt, sich immer wieder neu zuzuwenden und zu verbinden. Auch und besonders wenn alles innendrin nach Flucht oder nach Gegenschlag ruft. Einen anderen Menschen in seinem Schmerz, in seinem Leid (oh ja, kein Kind und kein Mensch ist freiwillig völlig außer Kontrolle) und in seiner Ohnmacht nicht alleine zu lassen, sondern so lange bei ihm zu bleiben, bis er sich wieder gefangen hat, das ist mehr als genug. Das ist genau das, was uns Menschen ausmacht, und das ist auch genau das, was gebraucht wird, um zu heilen – die kleine Wunde und das große Ganze. Dazu benötigt es Intention, Bewusstheit und, ja, Übung. Jeden Tag ein kleines bisschen.
Rumi, ein persischer Dichter des 13. Jahrhunderts, sagt es ganz wunderbar: „Lassen wir das, was wir tun, das Schöne sein, das wie lieben.“ Oder, etwas einfacher mit Gandhi: „Sei der Wandel, den du in der Welt sehen willst.“ Und mit den Worten von Jon Kabat-Zinn, der über die Achtsamkeitspraxis als „Vertrautheit mit den Dingen, wie sie wirklich sind“ spricht, über die „kluge Aufmerksamkeit“, die der „Weg zur Wiedererlangung unserer Menschlichkeit“ ist, ein Weg, „das zu sein, was wir schon sind, aber vielleicht vergessen haben, in einem Wort: voll und ganz Mensch zu sein.“
Also, ist es genug, was jeder von uns tut?
Mut zum Menschsein
Wenn wir ganz Mensch sind, mit uns, miteinander, mit der Welt, mit der Umgebung, ja, das ist genug. Aber manchmal braucht es ganz schön Mut, um Mensch zu sein in einer Welt voller Smartphone-gesteuerter Körper, Konsum-strebender Gehirne und Ablenkung-suchender Herzen. Seien wir mutig, immer wieder, und erlauben wir uns, auch dann Mensch zu sein, wenn es nicht den Idealvorstellungen entspricht. Es lohnt sich, versprochen. Wach zu sein für das Abenteuer Menschsein, in diesem Moment, und in diesem, ist genug. Und es ist dringend notwendig.
Versuche nicht, die ganze Welt zu retten
Versuche nicht, die ganze Welt zu retten
oder sonst etwas Großartiges zu vollbringen.
Stattdessen erschaffe eine Lichtung
im dichten Wald deines Lebens
und warte dort geduldig,
bis das Lied, das dein Leben ist,
in deine geöffneten Hände fällt,
und du es erkennst und begrüßt.
Nur dann wirst du wissen,
wie du dich dieser Welt, die es so wert ist,
gerettet zu werden, schenken kannst.
- Martha Postlewaite