Ist es in Zeiten einer Pandemie erlaubt oder geziemt, von Freude zu sprechen? Ich stelle fest, dass vielerorts eine große Müdigkeit herrscht, über Corona und seine Nebenwirkungen zu reden – eine Art innere Sattheit und Erschöpfung und ein allzu verständlicher Wunsch nach „in Ruhe gelassen werden“. Ich stelle auch fest, dass sich Menschen zunehmend nicht trauen, das auszusprechen was sie wirklich fühlen, denken oder fürchten. Es ist keine Kraft mehr da für potentielle Konflikte, Diskussionen, Position beziehen oder eine Meinung bilden in diesem Meer an Grautönen und der ungestillten Sehnsucht nach klarer Farbe.
Es gibt nur jetzt
Beides erkenne ich auch in mir, und beides ist Teil des Lebens, wie es gerade ist. Vor einigen Jahren las ich folgenden Spruch: „Es gibt keinen Unterschied zwischen Wochentagen und Wochenenden, zwischen regulären Tagen oder Feiertagen; nur Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang. Schätze es und erfreue dich daran.“ In diesem Sinne gibt es kein „vor Corona“ und „mit Corona“, kein „warten und hoffen auf den Sommer“ und kein „zurück zum normalen Leben“. Es gibt nur jetzt, und ein ehrliches Anerkennen dessen, was jetzt Teil des Lebens ist. Und Freude gehört dazu, wenn wir es erlauben.
Freude scheint optional – oder nicht überwältigend genug
In schwierigen Zeiten kann die Freude schnell geopfert werden zugunsten scheinbar wichtigerer Aufgaben: lösen, klären, (vor)sorgen, planen, funktionieren. Alle Leichtigkeit und Verzauberung verschwindet rasch und weicht Anstrengung und Verbissenheit. Ich kenne solche Phasen schon aus früheren Zeiten. Die Praxis des achtsamen Lebens hat mir gezeigt, dass die Lampe der Aufmerksamkeit (Thich Nhat Hanh) viel mehr erhellen kann als ich jemals dachte. Die Freude war nie weg, ich habe sie nur nicht mehr wahrgenommen. Ich hatte zudem immer das Feuerwerk gesucht und tat die ruhige und zufriedene Flamme als nichtig ab.
Die Kunst des Lebens ist es, es zu leben – so vollständig wie möglich. Und dazu gehört auch die Freude. Ich spreche nicht von der ekstatischen und himmelhochjauchzenden Freude, die eine andere Art von Verblendung und Anhaftung bewirken kann. Was ich meine sind die vielen leisen oder sogar stummen Verkörperungen von Freude: einen knospenden Baum sehen, Schafjungen auf der Weide, Sonnenstrahlen auf der Haut, der Geruch der Morgenluft, sich wirklich Zeit nehmen für die Tasse Tee und ein Stück Nussschokolade, noch zwei Seiten in einem inspirierenden Buch lesen ehe die Augen zufallen, eine liebevoll gestaltete Karte in der Post. All das ist auch da, inmitten des ganzen Trubels, und es ist wichtig, diese Erfahrungen von Freude und Genuss zuzulassen. Freude ist Freude, da spielt es keine Rolle, wie „groß“ oder „intensiv“ sie zu sein scheint.
Freude im Alltag mit Kindern
Als Mutter habe ich das große Glück, die Freude immer wieder lebendig vor mir zu sehen. Nein, meine Kinder sind nicht entspannt, und sie leiden sehr unter dem Leistungsdruck in der Schule, Maskentragen, zwischenmenschlichen Herausforderungen und ihren oft unerfüllten Bedürfnissen. Es gibt Streit, Tränen, Hausaufgabenkämpfe oder Geschwisterzwist. Das Leben ist, wie es ist, hier und überall. Dank der Praxis des Innehaltens, des Beobachtens und der ehrlichen Neugierde ist es aber möglich, diese vielen kleinen und nicht so kleinen Momente der Verbindung und des Miteinanders in all dem Durcheinander wahrzunehmen und aufzusaugen; aufzutanken während dieses Marathons des Lebens. Blicke, Lächeln, über den Rücken streichen, bei Tränen da bleiben und halten, zusammen Waffeln backen, Französisch-Vokabeln abfragen, die heutige schwierige Erfahrung aus der Schule anhören, sich gemeinsam an das Lieblingshotel erinnern, und am Ende des Tages ihre friedlichen Gesichter und entspannten Körper sehen, wenn sie schon schlafen.
„Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus,“ schreibt der persische Dichter Rumi. Jeden Tag ein neuer Gast, und manchmal kommen sie in Scharen. Bei den ganzen laut grölenden und sich beschwerenden Gästen, die jedes (auch imaginäre) Haar in der Suppe finden, kann es schon mal vorkommen, dass man den unaufgeregten und freundlich lächelnden Besucher Freude übersieht. Er bedient sich am Buffet, grüßt nett und ruht in sich. Dass wir ihn nicht wahrnehmen ändert nichts an der Tatsache, dass er da ist und auch immer wiederkommt, geduldig. Er ist nicht weniger oder mehr wert als die anderen Besucher – auch wenn unsere Gedanken und die anderen Gäste uns immer wieder von ihm ablenken möchten – , er ist einfach nur da. „Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker.“ Die Freude ist da, laut und leise, groß und klein. Wir dürfen uns erlauben, sie immer wieder wahrzunehmen, uns diese 20 Sekunden zu nehmen für eine wirklich angenehme und nährende Erfahrung für unser Herz, Körper und Geist. Das ist kein positives Denken und keine Augenwischerei. Es ist vielmehr das wichtigste, was es zu tun gibt: das Leben leben, so vollständig und ehrlich wie möglich.
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Um die Freude geht es auch in meinem Gespräch mit Lienhard Valentin, das wir für den Online-Kongress von „Mit Kindern wachsen“ aufgenommen haben. Der Kongress findet vom 22. bis 30. Mai 2021 statt. Hier geht es zur Anmeldung zu diesem wunderbaren Projekt voller Inspiration, Wissen und Miteinander, mit u.a. Dan Siegel, Herbert Renz-Polster, Anne Hackeberger, Laura Markham, Alfie Kohn und vielen anderen.