Während des Schreibens ist es Tag 10 des Sommerurlaubs, noch ein paar wenige Tage bleiben übrig, bevor es wieder nach Hause geht. Ja, Achtsamkeit bedeutet, im Hier und Jetzt zu leben, und da sollte es nicht wichtig sein, was gerade ansteht: die Seele baumeln lassen oder eine Deadline einhalten. Jetzt ist jetzt. Aber es klaffen zwischen Ideal und Realität doch oft meterweite Krater.
Seit gestern nehme ich das mitgebrachte Buch zur Hand und lese. Es dauerte also neun Tage, um das System runterzufahren und in so etwas wie Entspannung zu kommen. „Finde deine Anzeichen“ lautet der Titel des Artikels. Damit ist gemeint: finde deine inneren oder äußeren Anzeichen dafür, dass du zur Ruhe kommst. Bei mir ist es das Lesen: ein Buch ist immer dabei, wenn ich unterwegs bin, doch oft bleibt es griffbereit aber ungeöffnet irgendwo liegen. Es fehlt mir einfach die Lust. Andere Dinge wie Fernsehen oder Handy haben oft Priorität, die Gewohnheit des Alltags: hinsetzen und ab- bzw. anschalten. „Im Urlaub will ich endlich mal wieder lesen!“ hört man oft. Aber dann dauert es oft sehr lange, bis aus dem energischen „ich will“ oder „ich sollte“ ein einfaches und leises „ja“ wird, ohne Druck oder innere Verpflichtung. Für manche mag das hier ganz banal klingen, aber das Lesen steht hier sinnbildlich für etwas ganz Individuelles, das in jedem und jeder schlummert. Es mag das malen sein, singen, spielen, tanzen, die Zeit vergessen, spazieren gehen, kochen, mit Freunden ausgehen, eine neue Sprache lernen, in die Sonne legen, in der Hängematte liegen, sich in aller Ruhe um den Garten kümmern, und so weiter. Ich spreche von der leisen Stimme aus dem Inneren, die unsere Kreativität wie selbstverständlich erweckt.
Unsere Teile sind oft sehr laut
Wenn wir das in die IFS-Sprache (Inneres Familiensystem nach Richard C. Schwartz) übertragen, dann hieße das, dass unsere Anteile, die uns antreiben, die etwas erreichen wollen, die einem inneren oder äußerem Anspruch entsprechen wollen, die verhindern wollen, dass wir einfach mal „nichts“ tun – diese Teile sind oft sehr laut. Und auch unser innerer Rebell, der sich immer wieder gegen jede Art von Bevormundung oder Plan auflehnt und „im Urlaub einmal mal nichts machen müssen!“ will, auch dieser Anteil ist oft sehr laut und trotzig. Unsere Managerteile wiederum sind so daran gewöhnt, unseren (Arbeits)Alltag zu wuppen, dass es sich ziemlich normal anfühlt, immer einen Plan zu haben, die Zeit im Blick zu haben, zu wissen was als nächstes kommt und was uns wohl jetzt guttun würde. Das sind die Teile, die uns auch beim leckeren Frühstücksbuffet davon abhalten, zu viel zu essen oder nicht schon wieder den Kuchen zu nehmen, den hatten wir ja schon gestern und vorgestern. Sie meinen es gut und sie haben vermeintlich alles im Griff, und auch wenn sie nicht so laut sind wie manche andere Teile, dann ist – wenn wir aufmerksam hinhören – in ihrer Art immer eine Anspannung, eine Enge, der Wunsch nach Kontrolle zu spüren.
Die leise Stimme des Herzens
Wie gesagt fühlt es sich normal an, bis wir im Urlaub oder zum Beispiel bei einem Retreat oder einer anderen Art von Auszeit irgendwann wahrnehmen, dass „die leise Stimme unseres Herzens“ (nach einem Gedicht von Dirk Grosser) noch da ist und eigentlich nie wirklich weg war. Wir hören sie nur einfach nicht im Alltag, in dem ganzen Medienlärm, Nachrichtenlärm, Arbeitslärm, in den alltäglichen Dramen des Lebens und des Miteinander-Lebens, bei so viel Lärm da draußen in der Welt und nicht weniger anstrengendem Lärm in uns drinnen, wenn wir so viel bewerten, vergleichen, erwarten, planen und bedauern. Oft äußert sich die wiederentdeckte Stille darin, dass die Handschrift weniger fahrig und gehetzt wirkt, dass mehr Geduld da ist für die anderen Menschen, dass es nicht mehr so wichtig ist, ob es halb oder viertel nach sechs Uhr abends ist. Dass wir uns heute spontan für die Suppe entscheiden, weil die so lecker aussieht, obwohl wir eigentlich Salat essen wollten als Vorspeise. Dass wir aus dem Fenster sehen und nicht in die Enge geraten, wenn wir andere Menschen sehen, die spazieren gehen und wir aber hier drinnen sitzen – denn gerade fühlt es sich einfach richtig an, was wir tun, auch wenn es vermeintlich „nichts“ ist und alle anderen so aktiv scheinen. Die innere Ruhe äußert sich zum Beispiel darin, dass das Lesen wieder Freude macht und es egal ist, wie lange wir lesen. Und es macht sich auch darin bemerkbar, dass plötzlich andere Menschen in das Blickfeld geraten. Hier im Hotel sind eine Menge sehr kleiner Kinder – die ich in den ersten Tagen überhaupt nicht wirklich wahrgenommen habe. Zu sehr war ich mit mir und meinen Kindern und deren und meinen Bedürfnissen beschäftigt. Heute morgen verdrehte sich ein kleines Mädchen den Kopf, um meinem Blick standzuhalten, als ich vorüberging. Diese pure kindliche Neugierde und Offenheit macht Freude, sie ist hier überall zu spüren. Endlich nehme ich sie wahr, ohne Plan und Absicht. Die Welt innen ist etwas ruhiger geworden, das Atmen ist tiefer. Es ist nicht alles plötzlich einfach geworden, es gibt immer noch Erwartungen hier und Termine da, innere und äußere Diskussionen und Bewertungen. Aber es ist etwas langsamer geworden, etwas offener.
Nun besteht die Aufgabe darin, tatsächlich hier zu sein – und nichts festhalten zu wollen, in dem Wissen, dass das Alltagsleben wieder mit voller Wucht kommen wird und es wieder lauter und enger werden wird. Jake Dartington sagte einmal nach einem Retreat: „Ihr könnt nicht die Stille mitnehmen, nicht den Zustand, in dem ihr jetzt seid. Aber ich könnt die Erfahrung mitnehmen.“ Das half mir sehr: die Erfahrung mitnehmen, dass die leise Stimme nie weg ist und nie weg war, dass es aber immer wieder auch enorm schwer sein kann, sie im Alltag zu hören. Es geht um Vertrauen, um Geduld und – natürlich – um die Zeitinseln im Alltag, um immer wieder in der Hektik zumindest kurz still zu werden. Ob das nun Meditation, Spaziergang, Musik, Natur, ein Hobby, ein Buch ist, das ist ganz individuell. Wir können uns aber vornehmen, diese Momente wieder vermehrt in den Alltag zu lassen. Dann geht es darum, nicht bis zur nächsten Auszeit „einfach nur durchzuhalten“, sondern das Leben zu leben, das eben jetzt gerade ist, mit allem, was dazugehört. Einatmen, ausatmen, und immer so weiter.