Der Titel sagt schon alles: Entwicklung ist nicht linear. Eigentlich wissen wir das, das macht Sinn. Wir lernen mühsam neue Sprachen, ein Instrument, lernen kochen und Autofahren. Alles Schritt für Schritt. Es gibt Fehler und Missgriffe, Rückschläge und Vergessen, und nur langsam kommen wir voran.
Eltern wissen besonders gut, wie schwierig und, ja, auch anstrengend es ist, den Kindern beizubringen, dass sie aus Fehlern lernen, dass Fehler wichtig sind, dass Fehler natürlich sind. Die Kinder leiden trotzdem immer wieder sehr darunter, dass sie ihren eigenen Ansprüchen oder denen der sie umgebenden Erwachsenen nicht gerecht werden. Dann sind sie enttäuscht, schämen sich vielleicht sogar oder haben die Angst, dass ihre Mitschüler*innen jetzt anders über sie denken könnten. Die kritische Stimme entsteht sehr früh in unserem Leben, genährt durch unbedachte Bemerkungen der Erwachsenen, offene oder subtile Erwartungen der Umgebung und unbewusste alte Muster, die wir Eltern weitergeben, obwohl wir doch eigentlich überhaupt kein Druck machen wollen.
Und auch wenn wir erwachsen sind, gibt es da immer wieder die innere Stimme, die uns weiszumachen versucht: wenn ich mich nur genug anstrenge, dann müsste es doch eigentlich klappen. Wir kritisieren uns, wenn wir mal einen Trainingstag auslassen, wenn unser „Streak“ unterbrochen wird oder wenn wir wieder etwas zurückfallen, weil wir wegen Überforderung, Abwesenheit oder körperlicher Gründe ein paar Tage oder gar Wochen aussetzen mussten. Bei dem ganzen vergessen wir einfach immer wieder: wir sind Menschen und keine Maschinen. Jeder Tag und jeder Moment ist neu. Jeden Tag und jeden Moment sind wir älter, woanders, in einer anderen Verfassung. Der Körper funktioniert nicht planbar nach Regeln à la: wenn ich genug Obst und Gemüse esse und mich bewege, dann werde ich fitter. Wenn ich 7 ½ Stunden Schlaf pro Nacht bekomme, dann geht es mir gut und ich bin bereit für den neuen Tag. Wenn ich einmal pro Stunde aufstehe und mich dehne, dann bekomme ich keine Rückenschmerzen. Oder: Wenn ich jeden Vormittag eine Viertelstunde meditiere, dann werde ich gelassener und kann besser mit Stress umgehen.
Wenn … dann
Weil es sich so einfach anhört – schließlich belegen ja zig Studien die Wirksamkeit von diesem oder jenem – tappen wir immer wieder in die Falle, die uns besonders die Werbung weismachen möchte: Wenn du … dann … Und wenn wir es dann tun und nicht „konsequent genug“ sind, dann sind natürlich wir selbst schuld. Wer denn sonst, oder? Studien belegen doch, dass es funktioniert! Es kann eigentlich nur an uns gelegen haben oder eben an unserem unmöglichen Alltag, an unserem zu vollen Arbeitspensum oder an den Personen in unserem Leben, die uns dieses oder jenes einfach nicht ermöglichen. Wir würden ja gerne, aber es geht halt nicht! Der Gedanke „wenn … dann“ ist hierbei so grausam wie falsch. Denn er reduziert das Leben auf eine einfache Linie, die vermeintlich in eine Richtung geht. Wenn wir nur der Linie nach gingen, ob sie nun gerade läuft oder etwas kurvig ist, dann kämen wir automatisch an das Ziel.
Das Leben ist aber keine Linie, es hat kein Ziel. Das Leben … ist einfach. Es ist, wie es ist. Und natürlich hat alles, was wir tun, eine Auswirkung auf den nächsten Schritt. Aber dieser Vorgang, der zwischen Handlung und Folge dieser Handlung steckt, ist unendlich groß, komplex und unberechenbar. Das, worüber wir wirklich Kontrolle haben, ist nur ein Bruchteil des Ganzen.
Ein Beispiel:
Während ich das schreibe, regnet es draußen. Ich hatte geplant, in einer halben Stunde rauszugehen, um noch eine Kleinigkeit in der Stadt zu besorgen. Gerade merke ich, dass der Regen mich zweifeln lässt, ob ich den Extra-Weg wirklich auf mich nehmen sollte oder ob die Besorgung sich nicht doch aufschieben ließe. Der Regen bringt meinen sorgfältigen Plan durcheinander.
Diese Schlussfolgerung lässt sich leicht nachvollziehen: A (Regen) --> B (innere Zweifel, Unlust, Nachdenken über den ursprünglichen Plan) --> C (Verschiebung des Extra-Wegs)
Damit ist klar: wieder einmal verhagelt mir das nasse Wetter meine Pläne, und war nicht schon der gesamte Winter 2022/23 ein einziges Gemisch von ungemütlichem Nass und Grau?!
Natürlich ist das nicht so einfach. Ja, es regnet, und zur Wahrheit gehört aber auch, dass mein Körper seit vielen Tagen müde ist, dass mein Geist überall nach Ausreden sucht und sich gerne mit Fernsehen ablenken möchte und dass das Herz gerade schwer ist und sich eigentlich am liebsten verkriechen würde.
Es ist komplex
Wir sind komplexe Wesen und leben in einer komplexen Welt, zusammen mit lauter weiteren komplexen Wesen. Leben ist nicht einfach. Und unser Gehirn ist, wenn man den Wissenschaftlern Glauben schenken darf, das komplexeste Gebilde, das uns im ganzen Universum bisher bekannt ist. Selbst die kleinste Bewegung benötigt eine Vielzahl von Zusammenwirkungen und neuronalen Verzweigungen.
Und für jede einzelne Entscheidung, wie bewusst oder unbewusst sie auch gefällt wird, bringen wir unser ganzes aktuelles Sein in die Waagschale. Und unser ganzes aktuelles Sein fußt auf dem gesamten Sein unserer Lebensgeschichte: unsere Erfahrungen, Gedanken, Begegnungen, körperliche Zustände, etc. Es gibt nicht den einen Grund für oder gegen etwas, es gibt auch nicht den einen Grund, der uns „auf Kurs“ hält und die Entwicklung am Laufen hält.
Entwicklung ist nicht linear. Leben, Wachstum, Veränderung – alles das ist ein Prozess, dessen Verlauf wir im besten Falle begünstigen können, indem wir die Umgebung bereiten. Hierbei kann die Achtsamkeit ungemein helfen und uns zugleich demütig zurücklassen in dem Wissen: wir haben sehr wenig wirklich selbst in der Hand. Dennoch sollten wir unser Bestes geben – denn sonst passiert tatsächlich gar nichts in die gewünschte Richtung – aber uns gleichzeitig nicht selbstkritisch an den Pranger stellen, wenn wir feststellen: Das habe ich mir anders vorgestellt. Das sollte eigentlich schneller gehen. Warum klappt das bei anderen, aber nicht bei mir?
Die Aufgabe ist es hier, die eigenen Erwartungen immer wieder loszulassen, WIE der Prozesswohl auszusehen hat oder sich anzufühlen hat. Einfach weitergehen, mit bewussten Entscheidungen und offenem Ausblick, einen Schritt nach dem anderen, im besten Wissen und Gewissen. Dazwischen immer wieder hinfallen, vergessen, zurückfallen, andere Prioritäten haben, nicht mehr können, und irgendwann wieder den nächsten Schritt machen. Ein anderes Wort dafür ist übrigens: leben.