Unser Körper hat immer, wirklich immer Kontakt mit dem Boden oder mit etwas, was wiederum mit dem Boden verbunden ist. Und doch verlieren wir uns so schnell in Gedanken, in Plänen und in anderen Dingen, die unser Geist so fabriziert. Ein Anker kann dabei helfen, sich immer wieder, nun ja, zu verankern mit dem hier und jetzt.
Der Körper ist immer in der Gegenwart. Das Hungergefühl ist jetzt, das Jucken in der linkenSchulter ist jetzt, die Schwere in den Beinen ist jetzt, das wohlige Gefühl, wenn der Tee über die Kehle nach unten wandert, ist jetzt, der Schmerz imRücken ist jetzt. Warum ist es wichtig, immer wieder ins „jetzt“ zu kommen? Weil hier das Leben stattfindet. Nur wenn wir hier sind, können wir wahrhaft selbst-bewusst handeln und sprechen – wenn wir nicht da sind, verpassen wir den richtigen Moment, um eine Grenze zu ziehen, um deutlich unsere Meinung zu sagen, um gut für uns zu sorgen oder um innerlich zu entscheiden: „nein, das ist es nicht wert“ und sich aus der Situation herauszuziehen.
Wenn die Welle kommt
Es gibt Phasen im Leben, da ist es einfach zu viel: zu viele schlechte Nachrichten, zu viel Verantwortung, zu viele Verpflichtungen, zu viele Termine im Nacken, zu viele Zipperlein im Körper. Das „zu viel“ zeigt sich im Körper durch Anspannung oder Schmerz oder Erschöpfung. Die Quelle aber liegt im Kopf: „Mir ist das gerade zu viel“, denken wir, und gehen nicht selten unter in der Welle. Dann fühlt sich alles so groß an, so überwältigend, und wir werden überrollt, eines folgt auf das andere. Dabei hatten wir doch ohnehin keine Reserven mehr! Und auch im Kopf entsteht dann der Gedanke: „Ich kann jetzt keine Pause machen. Es gibt so viel zu tun!“ Es ist ein Paradox: die Ursache für den Stress und die Verhinderung der Lösung, beides findet sich in unserem Geist, in unseren bewertenden und impulsiven Gedanken. Da wir aber meist nichts anderes gelernt haben als unseren Verstand zu benutzen, versuchen wir weiterhin krampfhaft, eine Lösung zu finden. Wir suchen, analysieren, schmieden Pläne und setzen uns Ziele – nur um bei der nächsten Welle zu merken, dass wir keinen Kontakt mehr zu unseren schlauen Ideen haben. Unser primitives Gehirn, vor allem die Amygdala, kidnappt den Geist und wir können nicht mehr klar denken. Im schlimmsten Fall kommt eine andere Welle namens Selbstkritik hinzu, wenn wir meinen, wir seien einfach nicht gut genug, sonst würde es ja irgendwie gehen.
Sich verankern
Wir brauchen ein Hilfsmittel, um aus dieser Spirale herauszukommen, und hier kommt der Anker ins Spiel. Ein Anker ist dazu da, um etwas festzuhalten und nicht von Wellen wegtragen zu lassen. Da unser Körper immer in der Gegenwart ist, kann er hervorragend als Anker dienen, um aus den Gedanken herauszukommen. Denn: „Im Bauch sind keine Gedanken.“ Und in den Füßen auch nicht, im Atem nicht, und nicht in dem Bereich, der gerade Kontakt zur Sitzfläche des Stuhls hat. Immer, wenn wir mit der Aufmerksamkeit in den Körper kommen, gönnen wir dem Geist eine kleine Pause. Wenn wir das immer wieder machen und auch mal ein paar Augenblicke länger im Körper verweilen, können wir feststellen, dass wir oft etwas klarer sehen, mehr Weitsicht haben und auch etwas ruhiger werden. Auch wenn es nur minimal ist, der Effekt auf den nächsten Moment kann enorm sein.
„Wir kümmern uns am besten um die Zukunft, indem wir uns jetzt um die Gegenwart kümmern“, sagt MBSR-Gründer und Autor Jon Kabat-Zinn.
Um uns um die Gegenwart kümmern zu können, müssen wir aber zunächst in der Gegenwart sein und eben nicht in den Gedanken, die oft in der Vergangenheit, der Zukunft oder bei der Planung des nächsten Projektes sind.
Mögliche Anker im Körper
Für viele Menschen ist der Atem ein Anker. Jedoch brauchen wir den Atem zum Sprechen, was eine Verankerung in der Konversation eher schwierig macht, besonders in einem Streitgespräch. Andere wiederum haben Schwierigkeiten, dem Rhythmus des Atems zu folgen, ohne etwas zu verändern. „Atmen lassen“ lautet die Anleitung, aber ob das überhaupt möglich ist, ist ohnehin fraglich: sobald wir dem Atem die Aufmerksamkeit schenken, sind wir auf eine gewisse Art involviert und beeinflussen also schon irgendwie. Es gibt also noch weitere Optionen, die es wert sind, einmal in der Stille und im Alltag auszuprobieren:
- Atem: Die Empfindungen im Körper währendes Atmens wahrnehmen. Einatmen, ausatmen und die Pausen dazwischen. Den Atem wahrnehmen, wo er gerade besonders deutlich zu spüren ist: Bauchbereich, Brust oder Nase.
- Schwerkraft: Die Körperregion in den Fokus nehmen, die Kontakt hat zum Stuhl oder zur Unterlage. Die Schwerkraft wahrnehmen, die Kontaktpunkte, den Körper tragen lassen. Das Hiersein körperlich spüren.
- Füße: Mit der Aufmerksamkeit in die Füße gehen und die Empfindungen wahrnehmen, die dort wahrzunehmen sind. Kribbeln, Temperatur, Kontakt zum Strumpf, zur Luft, den Schuh oder die Pantoffel spüren. Den Kontakt zum Boden spüren. – Zusatz: Sich vorstellen, dass nicht nur die Füße den Boden berühren, sondern dass der Boden von unten die Füße berührt. Das kann zu einer noch stärkeren Verbindung und Erdung beitragen.
- Hände: Mit der Aufmerksamkeit in die Hände gehen und die Empfindungen wahrnehmen, die dort wahrzunehmen sind. Kribbeln, Temperatur, Kontakt zu Luft, den Schmuck spüren, Kontakt der Hände zueinander oder zu einem Gegenstand oder einem Körperteil. Evtl. die Hände und Finger bewegen, um sie ganz deutlich zu spüren.
- Rückgrat: Mit der Aufmerksamkeit in den Rücken gehen, evtl. den Kontakt zur Stuhllehne oder zum Boden spüren. Die ganze Breite des Rückens wahrnehmen und die Wirbelsäule im Zentrum bewusst verinnerlichen.
- weitere Anker: selbstverständlich gibt esn och weitere Anker, z.B. äußere Anker wie ein Gegenstand (Stein, Ring, Armband, Figur, etc.), deren Berührung uns verankern kann. Geräusche und die visuelle Verbindung mit der Natur können ebenso nützlich sein.
Es ist sehr hilfreich, einen oder zwei Anker für sich zu finden und im Alltag zu etablieren, also sich immer wieder damit zu verbinden. So entwickeln wir eine Beziehung zu und Vertrauen in unseren ganz individuellen Anker, damit er uns zur Verfügung steht, wenn das Leben und die Bewertung durch den Geist uns wieder einmal zu überrollen drohen.