Mein Weihnachtswunsch: eine Prise mehr Menschlichkeit

December 2020
Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels

Kürzlich ging ich mit meiner Tochter zum Zahnarzt, und wir parkten vor dem Haus. Ich war unterwegs zum Parkscheinautomaten, als mich jemand von hinten rief. Der Fahrer des zuvor neben uns parkenden Autos fuhr im Schritttempo vorbei und reichte mir sein Tagesticket durch das offene Fenster. Ich bedankte mich für seine Freundlichkeit und er fuhr seiner Wege. Noch zwei Tage danach war meine Tochter fassungslos über die selbstlose Tat des Mannes, der uns ja gar nicht kannte. Es war ein wunderbarer Moment, ihr mein Mantra „Freundlichkeit ist das Wichtigste!“ auf diese direkte Art und Weise verdeutlichen zu können und sie als Empfängerin hautnah spüren zu lassen, wie gut gelebte Menschlichkeit tut.

Was braucht die Welt gerade am meisten?

„Was braucht die Welt gerade am meisten?“ hieß es in einem Facebook-Post vom Arbor Verlag Anfang Dezember. Meine Antwort ist klar: Menschlichkeit. Mensch sein dürfen, Mensch sein lassen, und einfach sich selbst erlauben, wie ein Mensch zu fühlen, zu denken und zu handeln. Einander Mensch sein ist eine Qualität, die in den vergangenen Wochen und Monaten vernachlässigt wurde. Das mag eine subjektive Einschätzung sein, unterstützt davon, dass es natürlich weniger Gelegenheiten gab, sich zu sehen, sich zu umarmen, sich miteinander zu freuen. Auf der anderen Seite ist es doch gerade deshalb so wichtig, sich zu begegnen. Ob mit Abstand zum Spaziergang oder per Video, ob mit Sprachnachricht oder beim altmodischen Telefonat – sich begegnen findet immer einen Weg. Ich habe festgestellt, dass der erste Lockdown auch eine Art Mess-Stab war dafür, ob eine bestimmte Verbindung das aushält oder ob der Kontakt nur noch aus Gewohnheit bestand. Es erinnerte mich an die vielen Umzüge in meinem Leben, die immer wieder dazu führten, dass das Sprichwort „aus den Augen, aus dem Sinn“ schmerzhaft seinen wahren Kern offenbarte. Aber, so habe ich gelernt, das darf so sein. Denn alles ändert sich, und auch Beziehungen ändern sich. Da war dann Raum für Trauer, für Akzeptanz und für Loslassen.

Ein Wegbrechen einer Freund- oder Bekanntschaft hat aber zunächst mal nichts mit Menschlichkeit oder dem Fehlen derselben zu tun, sondern ist ein natürlicher Vorgang des Lebens von Beziehungen. Auch im Beenden einer Bekanntschaft gibt es Raum für Menschlichkeit. Nein, ich spreche von Momenten des Mitgefühls für einsame Menschen; von Hilfsbereitschaft für gefährdete Personen, wie es die Pfadfinder im Frühjahr gezeigt haben; von einem einfachen aber unerfüllten „Hallo, wie geht es dir?“ per Video vom Klassenlehrer; von der Bereitschaft, sich nicht abstumpfen zu lassen von den täglichen Patientenzahlen; von dem Entschluss, über den eigenen Schatten zu springen und jemanden anzurufen (obwohl eigentlich der/die „an der Reihe“ wäre); von dem Mut, sich seinen eigenen Schwierigkeiten zu stellen und nicht direkt einem anderen die Schuld zu geben; und von der Überzeugung, in einer Führungsposition nicht nur Aufgaben delegieren zu müssen, sondern die Mitarbeiter wirklich sehen zu wollen. Einfach von Mensch zu Mensch.

Die Menschen sind müde

Im Frühjahr und Sommer gab es viel Solidarität und Mithilfe, und das ist ganz wunderbar. Aber die Ereignisse und die Umwälzungen des Lebens zollen ihren Tribut: viele sind müde. Unsicherheit, der gefühlte Mangel an deutlicher Information oder einfach Eigenkontrolle über das, was geschieht – diese drei Punkte sind die Hauptstressoren im Leben eines Menschen. Und alle drei sind immer wieder seit Monaten präsent, im Kleinen und im Großen. Das macht müde, das macht mürbe und das macht verschlossen. Auch, wenn manche es nicht wahrhaben möchten und immer noch nur „zurück zur Normalität“ wollen, so ist es doch eine Tatsache, dass es ein „zurück“ nicht geben wird. Das Leben geht nie spurlos an einem vorbei, und was passiert ist, hat und wird weiterhin ein Echo hinterlassen. Das ist verständlich, und viele hat es hart getroffen und wird es noch treffen.

Begegnung von Mensch zu Mensch

Aber das Wichtigste ist immer noch: einander Mensch sein. Sich offen begegnen, von Herz zu Herz sprechen. Nicht immer, das muss und kann gar nicht sein. Zunächst geht es darum, sich selbst zu sehen, mit Güte und Fürsorge. Mit Interesse, Wachheit und Freundlichkeit immer mal wieder bei sich selbst vorbeischauen. „Wie geht es mir eigentlich gerade? Was würde mir jetzt guttun?“ Und dann, immer wieder, ganz bewusst und voller Intention, den anderen wirklich wahrnehmen. Es kostet nichts, und vor allem tut es beiden gut – dem Sender und dem Empfänger. Zahlreiche Studien belegen das.

Wie das aussehen kann? Es gibt unzählige Arten, aber mein Favorit ist immer noch das interessierte Sehen des anderen. Den anderen Menschen sehen in seiner Freude, in seiner Situation, und ja, in seinem Schmerz. Sehen und nicht abwenden. Dadurch entsteht wie von selbst Freundlichkeit und Verbundenheit. Und beim nächsten Mal versuche ich dann wieder, mein Parkticket weiterzugeben. Es geht nicht um die 80 Cent, die ein anderer damit spart. Es geht um das unbezahlbare Gefühl, gesehen zu werden. Zu Weihnachten wünsche ich mir ein bisschen mehr Menschlichkeit, für mich und für alle anderen.

„Meine Religion ist Freundlichkeit.“ - Dalai Lama

Weitere Artikel

Alle meine Blog-Artikel finden Sie hier.‍

Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels
Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels
Bild zur Veranschaulichung des Blog-Artikels