Kürzlich leitete ich eine Gruppe durch einen „Tag der Achtsamkeit“, und zum Mittagessen in Schweigen zog sich jeder mit seinem mitgebrachten Essen in den Garten zurück. Die Sonne schien, es war nicht zu heiß und nicht zu kalt, der Wind wehte erste Blüten von den Bäumen.
Wenn solche Veranstaltungen stattfinden, habe ich immer mindestens zwei Hüte auf: ich bin gleichzeitig Referentin, zu jedem Moment verfügbar und ansprechbar, sollte jemand Unterstützung brauchen – und ich bin Teilnehmerin, die wie alle anderen versucht, die achtsame Haltung der Präsenz, der Neugierde und der Zugewandtheit zu üben. Ich saß also auf dem gepflasterten Weg und lauschte, schaute, spürte. Und da war sie: die Natur. Gerüche, Geräusche, Blüten, Wind, Farben, Vögel und Käfer, Insekten auf und neben mir.
Die Natur entdecken
Ich schloß die Augen und war einfach nur da, es gab nichts zu tun. Dann öffnete ich die Augen wieder und bemerkte, dass eine dicke Fliege auf meinem nackten Fuß saß. Mein Gedanke: „Bäh. Die ist aber eklig.“ Und dann die Erkenntnis: ich hatte sie gar nicht gespürt, sie durfte einfach da sein, und erst der Anblick bewirkte diese Reaktion. Sie bewegte sich und ich merkte: je mehr sie in Richtung Knöchel läuft, desto eher spüre ich ein leichtes Kitzeln. Dann änderte sie wieder die Richtung und ich spürte wieder nichts. Spannend. Dann sah ich eine Ameise auf mich zulaufen und dachte: „Du darfst da laufen, aber bitte nicht auf mich klettern.“ Hm. Weshalb erlaube ich manchen Tieren, mich zu berühren, anderen aber nicht? Dann sah ich den Blütenflug in der Luft und war dankbar, dass ich keine Pollen- oder Gräserallergie habe. Rechts von mir war eine winzige Blume aufgeblüht, die ich erst beim genaueren Betrachten des Grases bemerkt hatte. So klein und so schön farbig und lebendig. Hatte ich schon jemals so kleine Blüten gesehen? Dann ließ sich ein Schmetterling auf einer Blüte links von mir nieder, und ich konnte die schöne Farbstruktur der Unterseite der Flügel erkennen, die sich wunderbar in das Erscheinungsbild der Blüte einfügte, auf der er gerade saß.
Sanfte Geschäftigkeit
Und so weiter und so fort. Es war ein Meer von Eindrücken, welche sich aber ganz sanft und unaufgeregt vor mir entfalteten. Die Natur eben, die ohne Hast und unbeeindruckt von meiner Gegenwart einfach dem Lebenskreislauf seinen Lauf lässt. Ein Miteinander, ein Nebeneinander, ein Ineinander. Wie kommen wir Menschen nur in diesen Zustand, dass wir immer meinen, alles sei so wichtig, dieses hier müsse direkt gemacht werden und jener hier hätte sich aber bitteschön anders zu benehmen. Und ohnehin trödeln die Leute vor mir schon wieder unnötig. Warum verstehen die nicht, dass es einfach nur unsinnig und sehr störend ist, am Ende einer Rolltreppe stehen zu bleiben?
Bemerke einmal, welche Geschwindigkeit Du in Deinem Gang hast, wenn du irgendwohin gelangen willst.
Diese Begegnung mit der Natur war für mich eine wichtige Erinnerung, allen Gedanken („keine Zeit!“, „ich muss erst noch…“) zum Trotz immer wieder mit der Natur in Kontakt zu treten und einfach nur zu schauen, zu hören, zu spüren. Der Seele etwas Zeit geben, um sich an den Rhythmus der Natur anzupassen, zur Ruhe zu kommen und zu bewundern, wie das Leben einfach pulsiert, ohne dass wir irgend etwas tun müssten. Wenn wir ehrlich sind, dann können wir spüren, wie unser Körper – der ja auch nichts anderes ist als ein weiteres Lebewesen – darauf reagiert und sich ebenfalls einfügt. Es gibt kein „ich“ hier und „die Natur“ da. Es gibt keine Trennung. Wir sind ein Teil des Ganzen, und je mehr wir das wahrnehmen können, desto authentischer und sanfter können wir leben. Und ja, natürlich bewerten wir ständig das Wetter und mögen die Sonne lieber als den Regen (zumindest die Mehrheit der Menschen), aber bitte auch nicht zu viel Sonne – aber auch das kann man wahrnehmen und sich erinnern: wir Menschen brauchen wie unzählige andere Lebewesen Sonne, Wärme, Wasser, Luft. Alles ist Teil des Lebens, nichts ist besser als das andere.
Geh öfters raus und sei ein Teil des Ganzen!
Schau dir einen Baum, eine Blume, eine Pflanze an. Lass dein Gewahrsein darauf ruhen. Wie still sie sind, wie tief sie im Sein wurzeln. Lass zu, dass die Natur dich die Stille lehrt.
Eckhart Tolle, in: „Stille spricht“