Sie ist groß, schwarz gekleidet mit einer Art Umhang, ein hageres Gesicht, und sie kann ganz schön laut werden: Es gibt einen Teil in mir, den ich „Furie“ genannt habe. Sie meldet sich immer dann zu Wort, wenn etwas ganz und gar nicht so läuft, wie ich das gerne hätte und wenn dabei noch Unrecht, Respektlosigkeit, Rücksichtslosigkeit oder Unehrlichkeit dazukommt. Besonders erzürnt ist sie, wenn sich etwas wiederholt ereignet.
Furie – schon immer da, aber erst als Mutter wirklich erwacht
So richtig kennengelernt habe ich sie erst, seitdem ich Mutter bin. Sie war wohl schon immer da, aber zuvor gab es einen anderen Teil, der erfolgreich Ausbrüche kontrolliert und unterdrückt hatte: für ein Mädchen oder eine Frau gehört es sich ja nicht, so richtig wütend zu werden. Im Kontakt mit Kindern, besonders den eigenen, werden jedoch oft innere Bereiche berührt, die sonst kaum gereizt werden und die sehr kraftvoll und roh sind. Tja, und da war sie nun immer mal wieder: die Furie. Ihre Urgewalt machte mir zu Beginn sehr zu schaffen, ich kannte so starke und emotionsgeladene Teile an mir gar nicht. Ich war immer nett und brav, angepasst und hilfsbereit, freundlich und zuvorkommend. Bis ich Mutter wurde.
Aber da tauchte sie immer wieder auf: Wenn mein Kind einfach nicht aufhörte zu weinen, obwohl ich alles versuchte und es bis zur Erschöpfung trug und wiegte. Wenn das große Kind das kleine Geschwisterchen unsanft behandelte. Und dann auch im Alltag: wenn Nachbarn bis spät in die Nacht Diskomusik im Garten laufen ließen oder am Sonntag den Rasen mähten. Wenn im Innenhofbereich mehrerer angrenzender Häuser an Silvester schon um 21.30 Uhr Feuerwerkskörper gezündet wurden, die entsprechenden Lärm machten. Aber auch andere Dinge wecken die Furie: unterlassene Hilfeleistung, Egoismus zum Schaden anderer, unverhältnismäßige Gewalt, zur Schau gestelltes Desinteresse. Die Furie arbeitet offensichtlich eng mit einem moralisierenden Teil zusammen, der meine Werte beschützt.
Selbstregulation ist essentiell
Dass die Furie in mir erwacht bedeutet keinesfalls, dass sie sich ausleben darf. Selbstregulation ist eine sehr hilfreiche und gesunde Qualität, die mit den Jahren der Achtsamkeitspraxis immer robuster geworden ist. Doch dass diese „mörderische Wut“, wie Meditationslehrerin Diana Winston sie nennt, da sein darf – ohne dass sie nach außen kommen muss – brauchte eine ganze Weile. Ein selbstkritischer und verurteilender Teil kommt auch heute noch schnell herbeigerannt und hält seine scharfe Moralpredigt. „Du darfst nicht… Das geht nicht… Wenn sie wüssten, was du gerade denkst…“ Es kann auch mal vorkommen, dass die beiden miteinander kämpfen und ich innerlich zerrissen bin: Soll ich etwas sagen? Wann ist meine Grenze wirklich überschritten? Was ist wichtiger, die allgemeine Harmonie oder das Einstehen für meine Werte? Manchmal diskutiert dann auch noch ein beschwichtigender und vernünftiger Teil mit, der oft etwas mehr Weitblick hat als die beiden emotional aufgeladenen Teile. Und dann wiederum fühlt sich die Furie zuweilen nicht ernst genommen.
Das IFS-Modell
Seitdem ich das IFS-Modell von Richard „Dick“ Schwartz kennengelernt habe, machen viele Dinge Sinn, die mich früher aus der Bahn geworfen haben. Das innere Familiensystem geht davon aus, dass wir alle viele verschiedene Anteile in uns tragen, die unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Diese inneren Anteile verhalten sich wie echte Personen und interagieren auch mal mit- oder gegeneinander. Die innere Kritikerin z.B. meckert ständig an uns herum, nichts ist gut genug für sie. Ein innerer Beschützer will uns Unannehmlichkeiten ersparen und sagt gerne „nein“, um uns in der Komfortzone zu halten. Und mein innerer Antreiber, den ich sehr gut kenne, macht mir in ruhigeren Momenten klar, was ich noch alles zu tun habe und dass ich jetzt eigentlich überhaupt keine Zeit für eine Pause habe. Aber: alle Anteile dürfen da sein und alle haben eigentlich eine gute Absicht. Wir können mit diesen inneren Anteilen sprechen, sie kennenlernen, sie entlasten, sie umsorgen, damit sie mit der Zeit merken: ich muss gar nicht so hart arbeiten.
Dankbarkeit für die Furie
Meiner inneren Furie bin ich zutiefst dankbar, denn sie hat mir klargemacht, dass es so viel Ungelöstes in mir gibt, das es wert ist zu erforschen. Sie hat mich zur Achtsamkeitspraxis gebracht, denn ich wollte wissen, weshalb mich mein Kind innerlich so sehr reizt – obwohl es noch nicht einmal sprechen konnte. Ich wollte wissen, was bei mir ist, um diese starken Emotionen und Gedanken zu verstehen, die immer wieder entstanden. Meine innere Kritikerin hat mich vor einigen Jahren zum Selbstmitgefühl gebracht, und mein innerer Antreiber hilft mir täglich dabei, meine Arbeit gut zu machen. Manchmal jedoch muss ich ihn bremsen, er ist wie eine Maschine, die nie schläft. Die Beschäftigung mit der Furie hat zudem dazu beigetragen, dass sie sich immer mehr beruhigt und lange nicht mehr so stark und fordernd auftritt. Besonders in der Rolle als Mutter tritt sie nur noch sehr selten in Erscheinung.
Es gibt so viel zu entdecken, und es hört nicht auf, ehe nicht der letzte Atemzug gemacht ist. Was für ein Geschenk, nach innen schauen zu können und zu verstehen: Diese „mörderische Wut“ in mir, die mich gerade dazu antreiben möchte, verbal um mich zu schlagen, weil mich gerade alle nur noch nerven, das bin nicht ich – das ist ein Teil von mir, meine Furie, die gerade ganz deutlich macht: „Stopp, hier läuft etwas gehörig schief!“ Ich bin kein schlechter Mensch, dass ich gerade denke, was ich denke, dass ich bewerte, dass ich gerade auf 180 bin. Das ist eine Erfahrung, ein Teil von mir, der gereizt wurde und mich jetzt beschützen möchte, eben auf die einzige Art und Weise, die dieser Teil kennt.
Und dann geht sie los, die Forschungsreise nach innen.
P.S.: Wer mehr über IFS erfahren möchte, der kann sich für den IFS-Online-Kongress im Arbor Online Center anmelden mit ganz vielen spannenden Gesichtspunkten und Interviews, u.a. mit dem Gründer Richard Schwartz. Hier ist der Link!