Der Alltag läuft (immer noch) nicht wie geplant

October 2024
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In unserer Familie treffen wir uns einmal am Wochenende zum Familienrat. Es gibt hier verschiedene Runden: zunächst geht es darum, was die anderen Familienmitglieder einem Gutes getan haben oder wobei man sich mitgefreut hat. Dann wird der Kalender der kommenden Woche durchgesehen, anschließend die Frage nach einem aktuellen Thema, das jemanden beschäftigt. Zum Schluss gibt es das Taschengeld für die Woche und jeder geht wieder seiner Wege.

Diesen Familienrat habe ich vor einigen Jahren bereits eingeführt und seitdem ist er ein fester Bestandteil des Familiensonntags, zuweilen auch im Auto in der Kurzversion, wenn wir an dem Tag viel unterwegs sind. Wenn das Konzept bei anderen Eltern zur Sprache kommt, dann entsteht oft eine Reaktion von Staunen oder Anerkennung, manchmal nur per Mimik erkennbar oder auch ausgesprochen: „Das klingt toll, ich wünschte, das könnten wir in unserer Familie auch machen.“

Und die Realität?

Tatsächlich spielt es sich meist folgendermaßen ab: auch nach vielen Jahren und noch viel mehr Wiederholungen haben die Kinder immer noch keine Lust auf dieses Ritual und würden alle Runden bis auf das Taschengeld liebend gerne überspringen. Manchmal trauen sie sich auch, vor Beginn ihren Unmut deutlich zu äußern. Wer der Kinder den Kalender vorlesen darf, muss ich jede Woche aufschreiben, und wenn ich es einmal vergessen habe, weil wir beispielsweise im Urlaub waren, dann wird gestritten, wer denn nun wirklich letztes Mal dran war. Und wehe, ich habe nicht deutlich genug geschrieben, dann wird es anstrengend. Wie die Reihenfolge bei der ersten Runde ist, muss per Würfel entschieden werden, denn auch hier gab es immer und immer wieder Streitereien: „Sie/Er ist immer vor mir dran!“ Und wenn es in der letzten Runde etwas zu sagen gibt, dann sind das eigentlich immer wir Eltern und die Kinder verdrehen die Augen, weil sie Kritik erwarten. Daher sind sie überhaupt nicht offen, wenn wir zum Beispiel einmal sagen, dass wir gerade einen richtig schönen Urlaub hatten und es eine tolle Familienzeit war.

Meine Gedanken

Es nervt. Die Idee des Familienrats ist eine ganz wunderbare, finde ich, und selbst die extrem verkürzte Version, die wir durchführen, hat immer den Flair von Pflicht und Unlust. Ich fühle mich als diejenige, die drängelt und die armen Kinder dazu zwingt, wenigstens einmal in der Woche etwas Nettes über die anderen Familienmitglieder zu sagen. Und dann fällt ihnen allzu oft nichts ein, was sie sagen könnten. Meine Gedanken: Das kann doch wohl nicht wahr sein. Immer noch?! Immer noch so viel Widerstand? Immer noch so wenig Interesse? Immer noch so wenig Verständnis und Offenheit für die Quelle an Verbundenheit und Dankbarkeit, die hier schlummert?

Ein weiterer Gedanke: Was mache ich falsch? Die ursprüngliche Idee des Familienrats endet mit einer gemeinsamen Aktivität – ein Spiel, ein Ausflug, ein Film – aber das ist aus verschiedenen Gründen in unserer Familie keine Option gegenwärtig, zu viele verschiedenen Interessen und zeitliche Zwängen sind vorhanden. Liegt hier das Problem? Aber früher wurde es probiert und keiner hatte Lust darauf...

Und noch: Jetzt reißt euch doch einfach mal zusammen, es ist doch nicht so schwer, für ein paar Minuten etwas ordentlich zu machen, was für die Familie sehr verbindend ist! Könnt ihr nicht sehen, wie wertvoll so etwas sein kann? In meinem Kopf laufen viele Videos über harmonische zehn Minuten mit ganz viel Miteinander und gegenseitiger Wertschätzung ab – leider nicht die Realität. Und dann fühle ich mich manchmal auch so alleine in dem Versuch, etwas für die Familie zu machen.

Mein Übungsfeld

Auch wenn es mir nicht immer im Moment bewusst ist, so ist genau diese allwöchentliche Situation ein wunderbares Übungsfeld. Das Leben läuft nicht so, wie ich das gerne hätte, und ich kann meine Gedanken ertappen, die da sagen: Jetzt machen wir das schon so lange. Irgendwann muss es doch klappen? Irgendwann muss doch die Einsicht kommen? Ich nehme an, viele Eltern können genau diesen inneren Kommentar in ihrem eigenen Leben erkennen: es gibt so viele wiederkehrende Situationen im Alltag. Irgendwann muss es doch gut sein, leichter werden, auf weniger Gegenwehr stoßen. Oder??!! Wir meinen es doch gut und eigentlich könnte es so schön sein. 

„Ja, das auch.“

Ja, aber so ist das Leben nicht. Das Leben ist nicht so, wie ich das gerne hätte. Und ich reagiere auf das Leben auch nicht so, wie ist das gerne hätte. Heute war ich nicht souverän. Müdigkeit verhindert oft eine gute Kommunikation, und heute hat mich das gedachte „schon wieder“ über die Klippe geschickt und ich habe selbst deutlich geäußert, wie sehr mich die Situation nervt. Kein glorreicher Muttermoment, aber ein menschlicher Alltagsmoment. Auch das ein Übungsfeld: das darf sein, auch ich darf mich nicht immer erwachsen benehmen und gerade einfach nicht mehr können. Davon geht die Welt nicht unter und der nächste Moment, an dem ich es besser machen kann, steht schon vor der Tür. Ich kann nur bemerken, atmen, mich erden, mich zurückziehen und für mich feststellen: „Ja, das auch.“ Auch das ist das Leben. Auch das ist mein Alltag. Egal wie viel ich meditiere oder mich bemühe, so etwas kommt immer und immer wieder vor: die anderen Menschen, groß und klein, alt und jung, verhalten sich nicht so, wie ich es gerne hätte oder auch bräuchte. Ich verhalte mich nicht so, wie es sinnvoll und ein gutes Vorbild wäre. „Ja, das auch.“ Und dann geht es weiter, mit Einsicht, einem gekränkten Herzen über die Situation (mein Verhalten und der Auslöser des ganzen), mit Selbstfürsorge und mit dem Loslassen: Das ist passiert, und jetzt geht es weiter.

Das Leben ist ein Marathon, und die Menschen in diesem Leben – ob im Büro, im Haus nebenan oder die im eigenen Haushalt – stellen einem immer wieder Rucksäcke in den Weg (bildlich gesprochen und in Wirklichkeit). Aber das einzige, was uns übrig bleibt, ist weiterzulaufen. Manchmal ist es unheimlich schwer und anstrengend und, ja, extrem nervig. Manchmal ist es tatsächlich etwas leichter, für einen kurzen Moment – bis die nächste Bananenschale geworfen kommt und einen (fast) aus der Bahn wirft. Der Trick ist, nicht jedes Hindernis bis ins Mark zu analysieren, und sich für den langen, wirklich langen Weg so viele Tankstellen und Unterstützung wie möglich zu besorgen und aufzusuchen. Und immer wieder auch die Geschwindigkeit zu drosseln, um nicht ständig zu stolpern und um die Landschaft und die Menschen auf der Strecke oder am Wegesrand überhaupt zu sehen.

„Am Ende gilt doch nur, was wir getan und gelebt und nicht, was wir ersehnt haben.“ Arthur Schnitzler

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