Den Apfel schmecken

April 2021
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In einem Einführungs-Workshop kürzlich hatte ich Schwierigkeiten, die Praxis der Achtsamkeit zu erklären. Es war eine Pflichtveranstaltung der Direktion, und den Teilnehmern blieb nichts anderes übrig, als sich vor den Bildschirm zu setzen und mir zuzuhören. Ich weiß nicht, mit welcher Offenheit, Neugierde oder Motivation die Teilnehmer dabei waren. Und ich kann auch nicht neutral einschätzen, ob meine Art der Erklärung die richtige an diesem Tag war. Ob Anfänger oder bereits Praktizierende, es gibt immer wieder Situationen, in welchen eine Definition gefragt wird und sich Verunsicherung einstellt. Wie soll man etwas erklären, was sich nur in der Erfahrung wirklich erschließt?

Hier kommt also ein neuer Versuch.

„Sag mal, was ist denn nun Achtsamkeit?“

Das oben auf dem Bild sind Äpfel. Der Apfel ist, wenn meine Recherchen richtig waren, eine Pflanzengattung der Kernobstgewächse. Es gibt viele verschiedene Arten und Formen, die in den nördlichen Regionen der Welt angebaut werden. Bei der Lagerung ist zu beachten, dass Äpfel auch nach der Ernte noch weiter reifen. Es gibt süßliche Äpfel, saure Äpfel, die sich oft besonders gut zum Backen eignen, eher mehlige und eher saftige. In Europa ist der Apfel ein sehr beliebtes Obst bei groß und klein und reich an Vitaminen und gesunden Nährstoffen.

Schon beim ersten Satz und durch das Bild ist klar, was gemeint ist, und es entstehen Erinnerungen und eine gewisse Orientierung. Aber: reicht das aus, um wirklich zu verstehen, was ein Apfel ist und was ihn ausmacht? Nein, denn „Gedanken und Interpretationen nähren uns nicht.“ (Richard Stiegler). Jegliche Information, wie ausführlich und verständlich auch immer sie sein mag, ersetzt nicht die unmittelbare Erfahrung, in diesen Apfel zu beißen, ihn wirklich zu schmecken und dann zu entscheiden: „Der schmeckt mir, da will ich mehr davon.“ 0der „Nicht so mein Fall, der war mir zu sauer/mehlig/hart/etc.“

Wenn wir nun in einen Apfel beißen, dann kann es leicht geschehen, dass wir (1) generell abgelenkt sind, z.B. vom Spaziergang oder von dem Gespräch, in dem wir uns gerade befinden. Oder (2) wir erinnern uns an den Geschmack dieser Sorte Äpfel von früher und finden, dass dieser hier ausgesprochen fade schmeckt. Es mag auch sein, dass (3) wir eigentlich Lust auf einen Schokoriegel hätten und uns mit einem Apfel begnügen, um nicht zu viele Kalorien zu verspeisen – eigentlich also ist der Apfel die Notlösung und nicht das, was wir wirklich wollen. Und wieder sind wir in Gedanken und in den Interpretationen, die uns aber nicht nähren. Um etwas wirklich zu schmecken, so wie es ist, müssen wir offen sein, neugierig, wach und bei der Sache, mit allen Sinnen dabei.

Genauso verhält es sich mit der Achtsamkeitspraxis. Die Theorie ist einfach: Achtsam sein bedeutet, im gegenwärtigen Moment präsent zu sein, mit vollem Bewusstsein und ohne zu bewerten. Das ist die Information. Aber: Wie schmeckt der gegenwärtige Moment? Welche Gerüche sind da? Welche Gedanken und Interpretationsfilter färben meine Wahrnehmung? Was für eine Klanglandschaft ist zu hören? Mit was für einer Stimmung bin ich hier? Wonach schmeckt mein Leben gerade? Nur die unmittelbare Erfahrung mit den Sinnen und mit dem ganzen Körper ist das wirklich Nahrhafte. Und dann natürlich auch, was dadurch in mir ausgelöst wird. Wie schmeckt dieser Moment und welche Auswirkungen hat das auf mein Empfinden und mein Leben, und dadurch auch auf den nächsten Augenblick?

Dann ist es egal, ob wir den Atem in den Fokus der Aufmerksamkeit nehmen, die Geräusche oder die körperliche Empfindung. Es geht nicht darum, was wir tun. Es geht darum, mit welcher Haltung wir es tun. So können wir in Analogie zum Verzehr des Apfels bemerken, dass wir (1) jetzt gerade gar nicht bei der Sache sind, sondern mit den Gedanken ganz woanders. Wir können auch feststellen, dass (2) das Vorlesen des immer gleichen Buches beim 29. Mal einfach nicht mehr spannend ist und wir arg gelangweilt sind. Es mag auch sein, dass wir jetzt gerade viel lieber (3) vor dem Fernseher sitzen würden als hier auf dem Stuhl vor dem Bildschirm und dieser Fortbildung folgen. Um das Leben wirklich zu leben, so wie es ist – und vor allem, so wie es sich FÜR UNS anfühlt – , müssen wir offen sein, neugierig, wach und bei der Sache, mit allen Sinnen dabei. Jeder Apfel schmeckt anders, je nachdem, wer ihn isst. Und jede Erfahrung ist einzigartig, je nachdem, wer und in welchem Zustand sie erlebt (wird).

„Und wozu soll Achtsamkeit gut sein?“

Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht da. Dieser Moment jetzt ist der einzige, den wir unter Kontrolle haben. Nur wenn ich schmecke, dass dieser Apfel mich nicht nährt und begeistert, kann ich mich dazu entscheiden, ihn wegzulegen oder freundlich aber bestimmt „nein, danke, ich möchte nicht“ zu sagen. Nur wenn ich bemerke, dass beim Essen die Erinnerungen an frühere Zeiten in mir Gefühle von Traurigkeit, Sehnsucht oder Verlust wachrufen, kann ich mir überlegen, wie ich mit diesen Gefühlen umgehen und mich jetzt gut um mich kümmern kann. Nur wenn ich wahrnehme, dass die Erinnerung nicht mit der gegenwärtigen Erfahrung übereinstimmt, kann ich bemerken, dass sich vielleicht meine Bedürfnisse oder Vorlieben verändert haben und dass das, was früher richtig war, eventuell nicht mehr gültig ist. Nur wenn ich die Sorge bemerke, dass es vielleicht einmal keine Äpfel mehr geben wird, kann ich mir überlegen, was ich dagegen tun kann. Und nur wenn ich wirklich schmecke, kann ich genießen und diesen Moment in mich aufnehmen als nährende Erfahrung, was wiederum meine inneren Ressourcen stärkt für schwerere Zeiten.

Noch einmal: „Gedanken und Interpretationen nähren uns nicht.“ Wenn wir also nicht bewusst und wach sind, wie das zum Beispiel durch ein Achtsamkeitspraxis gestärkt wird, dann leben wir im Autopiloten, in unseren Routinen und Denkmustern, mit der Negativitätstendenz als Grundeinstellung des Gehirns. Auf lange Sicht wird uns das nicht ausfüllen und ein Loch hinterlassen, dass sich schädlich auf unseren Körper und unsere Seele auswirken kann. Das muss nicht heute oder morgen sein, aber irgendwann merken wir, dass etwas fehlt, dass die Freude fehlt, die Leichtigkeit, das Leben, unsere Lebendigkeit.

Wir sind vollkommen und verbunden

Es gibt noch eine andere Art der Analogie mit dem Apfel – wenn wir das „essen können“ einmal außer Acht lassen. Wenn der Apfel gepflückt wird, dann reift er nach, er entwickelt sich und das ist auch abhängig von der Pflege und der Umgebung, in der er sich nach dem Pflücken befindet. Seine Herkunft und Standort des Baumes, Sonneneinstrahlung usw. sind natürlich auch essentiell für den Grundzustand. Jeder Apfel sieht anders aus und wächst individuell. Aber es sind alles Äpfel, miteinander verbunden durch einen Baum, die gleiche Erde, die Nährstoffe, die gleiche Sonne und somit auch verbunden mit allen anderen Äpfeln auf dieser Erde. Und: Der Apfel ist in sich vollkommen und hat schon alles, was er braucht, um mit Hilfe der Umgebung und der richtigen Pflege weiter zu reifen.

Genauso ist es mit den Menschen, die in sich bei der Geburt schon ganz und vollständig sind, wie Achtsamkeitslehrer Jon Kabat-Zinn es ausdrückt. „Solange du atmest, ist mehr an dir richtig als falsch.“ Ob es da eine Abweichung in der Anzahl der Glieder oder in der Funktionalität der Sinne oder des Gehirns gibt, wir sind trotzdem vollkommen. Ein Apfel mit einem Wurm darin ist ja auch immer noch ein vollkommener Apfel. Wie es dann weitergeht, hängt von der Umgebung ab, den Menschen um uns herum und auch von unserer Grundausstattung. Aber auch wir sind miteinander verbunden. Jedes Menschenwesen ist einzigartig, selbst die eineiigen Zwillinge, und doch sind wir alle einfach Menschen, die glücklich werden wollen und das Bedürfnis haben, gesehen zu werden und dazuzugehören.

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Ein Apfel mit einem Wurm darin ist ja auch immer noch ein vollkommener Apfel. Wie es dann weitergeht, hängt von der Umgebung ab.

Sich trauen, nach innen zu schauen

Nur wenn wir uns trauen, den Apfel wirklich wahrzunehmen, zu untersuchen und uns für ihn zu interessieren, dann merken wir vielleicht rechtzeitig, dass es unter der schönen Schale auch immer wieder beschädigte Stellen gibt, die von alten Verletzungen und Stößen herrühren. Und dann können wir uns entscheiden, wie wir damit umgehen, dass dieser Apfel nicht „perfekt“ ist – wie im übrigen keiner es ist. Wenn wir es aber gar nicht bemerken und einen Apfelgeschmack wie immer erwarten, während wir durch die Nachrichten des Tages scrollen, dann beißen wir einfach unbedacht hinein und ärgern uns dann, dass er so scheußlich und verdorben schmeckt und wer so unverfroren war, uns diesen Apfel anzudrehen.

Apfel, Leben, Achtsamkeit, Erfahrung – wie auch immer man es verstehen möchte, es geht ganz einfach um folgendes: das Leben er-leben, so wie es ist, und zwar dann, wenn es sich entfaltet: jetzt. Wach, neugierig, zugewandt. Genau wie beim Apfel gibt es keine andere Möglichkeit, als sich einfach darauf einzulassen und auszuprobieren, ohne Erwartungen oder Ziele. Den Moment wirklich schmecken, darauf herumkauen und ihn verdauen. Keiner schmeckt das gleiche, daher kann das auch keiner für uns übernehmen. Den Weg des eigenen Lebens gehen, nicht mehr und nicht weniger.

Kurzfassung

Das Leben besteht aus unzähligen Momenten. Achtsam sein bedeutet, so oft wie möglich – immer, wenn wir uns daran erinnern – den Moment zu schmecken und zu erfahren, so wie er ist. Sich lösen von Gedanken, Konzepten, Erinnerungen und Bewertungen. In einem achtsamen Moment entsteht ein Bewusstsein und eine Beziehung zum Leben und zu den Menschen in diesem Leben und damit erst die Möglichkeit, das eigene Leben wirklich zu leben.

Ich denke, für die nächste Weiterbildung lege ich mir einen Apfel bereit.

„Achtsamkeit ist der Weg ins Leben.“ - Dhammapada, 2

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