Es gibt dieses interessante Phänomen, dass die „Corona-Zeit“ – meist ist damit konkret der erste Lockdown gemeint – bei einigen Menschen als wunderbare Zeit in Erinnerung geblieben ist, in der endlich einmal Zeit war für die Familie, für sich, ein Leben ohne Termine und Fahrerei. Fast entschuldigend wird dann erzählt, dass es eigentlich eine sehr schöne Zeit gewesen sei. Natürlich ist immer mindestens eine Person im Raum, die dann erzählt (oft in sehr viel weniger Worten), dass es für sie sehr belastend oder auch ganz fürchterlich war.
Beides darf sein, selbstverständlich. Jeder ist sich bewusst, dass es einige enorm schwer hatten und vielleicht sogar eine Person verloren haben. Für manche war es ein Segen, für andere eine Zeit mit depressiven Verstimmungen bei sich und/oder bei den Kindern, mit Ängsten und unglaublicher Arbeitsbelastung. Es ist essenziell, dass wir uns selbst zugestehen: Das war meine Erfahrung. Das ist meine Erinnerung. So erging es mir und das hat es mit mir gemacht.
Jeder muss sein eigenes Leben leben
Aber das gilt natürlich nicht nur für die Corona-Zeit, es gilt immer: Jeder muss sein eigenes Leben leben, seine eigene Familie umsorgen, sein eigenes Umfeld erleben. Und es ist selbstverständlich, dass es immer wieder Phasen gibt, in denen es uns eigentlich ganz gut geht und wir immer wieder Momente von Freude, Dankbarkeit und Genuss verbringen – während es anderen in unserer Familie oder im Freundeskreis sehr schlecht geht. Dann kommt es schnell, das schlechte Gefühl. Darf es mir gutgehen? Darf ich erzählen, wie zufrieden ich mit meiner neuen Arbeit bin, wenn jemand in meinem Umfeld gerade seine Arbeit verloren hat oder schon ganz lange verzweifelt sucht? Darf ich von meiner Freude berichten, dass ich einen ganz wertvollen Moment von persönlicher oder beruflicher Wertschätzung erlebt habe? Darf ich erzählen, dass ich mir einen neuen Computer gekauft habe und mich darauf freue, alles zu installieren, während ein Freund finanzielle Schwierigkeiten hat?
1. Ebene: Achtsame Entscheidung. Was erzähle ich und wem?
Hier stecken zwei Ebenen drin. Die Achtsamkeit kommt ins Spiel, dass wir ganz bewusst entscheiden: wo und bei wem erzähle ich von meinem gegenwärtigen Zustand, von meiner Freude, von meinem Licht? Wo darf ich mein Herz öffnen, damit andere sich mit mir freuen können? Und wo ist es situationsbedingt oder emotional eher schwierig, von seiner Zufriedenheit zu berichten? Es ist oft ein schmaler Grat, so finde ich, zwischen „authentisch“ sein (was auch immer das individuell bedeuten mag) und aber bei anderen nicht bewusst ein schlechtes Gefühl bewirken – eben weil wir wissen, dass es dort gerade sehr schwer ist und sie mit unserem Glück gerade gar nicht umgehen könnten oder dadurch vielleicht noch trauriger oder verzweifelter würden. Hier gibt es kein richtig oder falsch, sondern die Einladung zur Offenheit, zur Wachheit und zum gesunden Menschenverstand. Wie ist es jetzt? Was ist gerade hier im Raum? Was kann gehalten werden und was nicht?
2. Ebene: Alles darf sein.
Die andere Ebene ist folgende: Ja, es darf mir gutgehen. Auch wenn meine beste Freundin oder meine Tante gerade enorm straucheln und kämpfen und nicht wissen, wie es jemals wieder besser werden soll. Manche*r Leser*in denkt sicher schon längst: aber klar, was für eine Frage! Für manche*n aber ist das gar nicht so einfach, sich das zu erlauben. Dabei ist es essenziell. „Ich kann nicht geben, wenn ich selbst leer bin.“ sagt Bréné Brown, ein Satz, den ich sehr gerne in Bezug auf Selbstfürsorge verwende. Wir können nicht so gut für andere da sein, die gerade Hilfe benötigen, wenn es uns selbst schlecht geht. Es geht aber viel tiefer um das grundsätzliche Zugestehen: Das ist mein Leben, und so fühlt es sich gerade für mich an. Und so darf es sein. Es bedeutet nicht, dass wir ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer mit unserem Glück hausieren gehen. Es bedeutet aber auch nicht, dass wir uns verstecken und uns für unser Wohlbefinden entschuldigen müssten.
Alles ist vergänglich, das Gute wie das Schlechte. Wir können Mitgefühl haben in der Präsenz von Leid anderer Menschen und versuchen, unser Bestes zu geben für eine Linderung, auch wenn es nur um das ehrlich interessierte Zuhören geht. Und gleichzeitig können wir Dankbarkeit empfinden für das, was bei uns gerade ist. Wenn wir uns erlauben, all das zu empfinden, dann können wir uns auch für andere freuen, wenn sie ihre Freude mitteilen, es uns wiederum aber gerade nicht so gut geht. Oder wir können klar kommunizieren: „Du, das ist gerade echt schwierig für mich. Es würde mir helfen, wenn wir über dieses Thema gegenwärtig nicht sprechen.“ Es geht im Grunde darum, Mensch zu sein, füreinander da zusein, und jedem und jeder einzelnen zu erlauben, die Erfahrung zu haben, die er oder sie gerade hat. Ohne schlechtes Gewissen, Mitleid oder Verleugnen. Es ist nicht immer einfach, Licht auf Schatten treffen zu lassen. Manchmal tut gerade helles Licht ganz schön in den Augen weh und wir können uns überlegen, wie wir die andere Person vor dem Schmerz bewahren können. Dennoch dürfen wir für uns wahrnehmen: bei mir ist es gerade hell, und das tut mir einfach gut. Ja, das darf so sein.