„Alles darf sein.“ Dieser Satz fällt in einem Achtsamkeitskurs mehrfach. Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als dass alles, was wir erleben, genau so sein darf. Es geht um Akzeptanz, um Loslassen jeder Erwartung und Zielsetzung, um Sein-Lassen der Realität.
Jede Empfindung darf sein: Jucken, Kribbeln, Wärme oder Kälte, Schmerz oder Wohlbefinden. Ob unangenehm oder angenehm, es ist einfach nur eine Empfindung, die man wahrnehmen kann.
Jeder Gedanke darf sein: „Ich mag das nicht. Ist das schön! Ach verflixt, schon wieder… Der nervt! Ich kann das nicht.“ Und so weiter… So unpassend er manchmal erscheinen mag, jeder Gedanke ist einfach nur Teil unserer Erfahrung. Eine Geisteserscheinung, die kommt und geht, so wie die Wolken am Himmel kommen und gehen. Auch der Gedanke: „Ich darf nicht so denken“ darf sein.
Und ja, auch jede Emotion darf sein: Freude, Eifersucht, Ärger, Dankbarkeit, Angst, Einsamkeit. Alles gehört zum Leben, und alles wird uns früher oder später einmal widerfahren.
Eine Umgebung der Verdrängung
Es gehört zum Kern eines jeden Achtsamkeitskurses zu lernen, mit allem zu sein und alles zuzulassen.
So unangenehm ein Schmerz oder ein destruktiver Gedanke auch erscheinen mag – es ist möglich, damit zu sein. Bezüglich der Emotionen ist das wirklich nicht einfach, denn die meisten von uns sind aufgewachsen in einer Umgebung, in der angenehme Emotionen (z.B. Freude, Liebe, Zufriedenheit) erlaubt und ausdrücklich erwünscht waren, die unangenehmen Emotionen (z.B. Wut, Ärger, Eifersucht) jedoch nicht. Als Kind wurde man weggeschickt, wenn man wütend war („geh auf dein Zimmer!“), hörte oft „wein doch nicht, das ist doch nicht so schlimm“ oder wurde mit der Aussicht auf eine Party von der Enttäuschung über die verpatzte Prüfung abgelenkt. Einfach nur damit sein – und erfahren, dass alles zum Leben gehört und auch wieder vorübergeht – war nie eine Option. Wir konnten niemals lernen, mit dem Unangenehmen zu sein und zu erfahren, dass wir auch das bewältigen können.
Unterdrückung und Verbot …
Die Menschen machen viel, um ihre eigenen unangenehmen Gefühle nicht spüren zu müssen. Und die Bemühung ist nicht minder groß, wenn es darum geht, von den schwierigen Emotionen der anderen Menschen nicht „belastet“ zu werden. Das ist auch ein großes Thema im Kurs für Eltern und Erzieher, in dem es darum geht, den Kindern alle Emotionen zu erlauben. Aber es ist so schwer, wenn wir es selbst nie gelernt haben bzw. noch als Erwachsene uns der Gefühle beraubt werden. Erst kürzlich sah ich im Fernsehen, wie in einer Talentshow der Moderator die gescheiterte Kandidatin nach dem Auftritt mit den Worten begrüßte: „Nicht traurig sein!“
Aber genau darum geht es doch! Sie darf traurig sein! Sie wurde enttäuscht, denn sie hat ihr Bestes gegeben, und es hat nicht gereicht. Wer wäre da nicht enttäuscht?! Würde ihr zugestanden, ihre Enttäuschung und Traurigkeit zuzulassen, dann könnte sie es im Körper spüren, es fließen lassen, es rauslassen, vielleicht auch mit ein paar Tränen. Und dann geht es wieder vorbei, sofern die Gedanken nicht ständig um diesen Moment kreisen. Das ist der Lauf der Dinge, der Lauf der Emotionen. Alles kommt, und alles geht, ein ständiger Fluß, eben das pure Leben.
… und die Folgen
Aber wenn wir es unterdrücken, wenn wir die Einsamkeit runterschlucken, wenn wir uns die Eifersucht verbieten, wenn wir das Gefühl von Hilflosigkeit nicht zulassen – dann kann diese Verdrängung und Nicht-Akzeptanz schwerwiegende Folgen haben. Manche reagieren mit Magengeschwüren, andere haben Schlafprobleme, vielleicht kommt es auch zu sich Bahn brechender Aggression und zu Wutanfällen. Vielleicht kennt ihr das von Menschen allen Alters in eurem Leben, die plötzlich explodieren wegen einer Nichtigkeit? Da hat sich einiges aufgestaut, was irgendwann und irgendwie raus muss. Und dann kommt hinterher die Scham darüber, dass man die „Kontrolle verloren“ hat.
Alles darf sein
Thich Nhat Hanh, ein vietnamesischer Mönch, sagt: „Gibt deinem Ärger, deiner Verzweiflung, deiner Angst, täglich ein Bad in Achtsamkeit.“ Wir müssen wieder lernen, alles zuzulassen, was da in uns ist und raus möchte. Ob Frust oder Enttäuschung oder Angst, es ist in Ordnung. Es ist menschlich. Und es ist gesund, die Gefühle zu fühlen. Dabei können wir lernen, diese Emotion zu haben, sie im Körper zu spüren, sie zuzulassen – aber vielleicht nicht auszuleben, wenn es andere Menschen verletzen könnte. Auch wenn es gesellschaftlich noch ein weiter Weg ist zur Akzeptanz, so dürfen, nein, müssen wir uns erlauben, menschlich zu sein. Und der Mensch ist eben nicht 24/7 gut gelaunt und zufrieden…
Es kann eine große Hilfe sein, regelmäßig nach innen zu lauschen und zu spüren, wie es gerade geht. Wie geht es meinem Körper? Welche Gedanken beschäftigen mich? Welche Emotionen wollen gespürt werden? Der „3-Minuten-Atemraum“ (hier ist ein Link zum freien Download) kann dazu beitragen, immer wieder kurz innezuhalten und zu bemerken, was gerade im Vordergrund steht. Und nicht vergessen: Alles darf sein.