Kürzlich war ich im Urlaub in einem Wildpark. Der Eintritt war Teil des gebuchten Hotels, und der Prospekt sah vielversprechend aus. Ich mag Tiere, ich bin gerne in der Natur, und ein groß angelegter Park mit viel Auslauf sagte mir zu, mehr als ein Zoo mit oft engen Käfigen.
Um es kurz zu machen: es war eine sehr unangenehme und herausfordernde Erfahrung, in vielerlei Hinsicht. Eine Lawine von Gedanken und Emotionen wurde davon ausgelöst: zunächst wurde mir schnell die Absurdität bewusst, mit einem Auto im Schritttempo durch den Lebensraum von Tieren zu fahren. Abgase, Unfallgefahr für die Tiere, Geräuschkulisse, all das beschäftigte mich sehr. Der Weg war lang, und obwohl ich meine Gedanken immer wieder energisch zum gegenwärtigen schönen Anblick des Waldes zurückholte, entflohen sie regelmäßig zu der engstirnigen Suche nach einem Tier. Ich fühlte mich erinnert an „Jurassic Park“: Wo sind denn nun die Dinosaurier?! Mein Sohn schlief irgendwann auf der Rückbank ein…
Menschen und andere Hindernisse
Es war eine anstrengende Fahrt: Ausschau halten, keine der sehr zutraulichen Tiere mit dem Auto verletzen, Schlaglöcher vermeiden – das anstrengendste aber waren die Menschen. Trotz vielfacher Beschilderung hielt sich niemand an die speziellen Futterzonen und Parkplätze. Es wurde überall angehalten, die Tiere wurden mit Futter bis ans Auto gelockt oder es wurde ohne Hemmung mit ihnen gekuschelt (alles ausdrücklich verboten). Zuweilen war es enorm schwierig weiterzufahren, ohne ein anderes Lebewesen zu verletzen, denn auf der Jagd nach dem perfekten Selfie mit Reh wurden alle Rücksicht, Vorsicht und sämtliche Parkregeln ausgehebelt. „Liebe Eltern, bitte achten Sie auf das Verhalten ihrer Kinder.“ stand überall groß auf Schildern, doch leider zeigten eben die sogenannten Vorbildpersonen genau das Verhalten, das zum Schutz der Tiere ausdrücklich verboten war.
Die Welt ist, was uns das Gehirn präsentiert – nicht unbedingt, wie sie ist
Dieser Ausflug machte mir vieles deutlich:
- Wie schnell das Gehirn zum Be- und Verurteilen von anderen Menschen neigt und es sich wie eine hängengebliebene Schallplatte ständig wiederholt: „Das gibt es doch nicht! Können die nicht lesen?!“
- Wie das Gehirn dazu tendiert, zu pauschalisieren und in eine Schublade zu stecken: „Die anderen Menschen, die anderen Besucher…“, dabei waren sicher auch welche dabei, die sich vollkommen korrekt verhielten – nur hat meine Negativitätstendenz dies nicht wahrgenommen.
- Die rasch gefasste Überzeugung, dass man selbst im Recht ist und es hier also eine Trennung gibt: ich vs. der/die andere. Daraus entsteht schnell Überheblichkeit oder sogar Ablehnung, zumindest aber eine bewusste Abgrenzung oder Distanz. Aus einem „wir“ wird ein „ich“ und „der/die andere“.
Auf jeden Fall wurden auch viele Fragen aufgeworfen, auf die es keine pauschale Antwort gibt:
Hat sich die Welt im Hinblick auf Benehmen so verändert in den letzten 20 Jahren? Ist es eine subjektive oder eine objektive Einschätzung, dass Rücksichtnahme und das Sehen des großen Ganzen unwichtiger geworden sind? Stehen Selfies und die eigene Selbstdarstellung im Internet wirklich immer öfter über das gegenwärtige richtige Verhalten anderen Menschen, Tieren oder der Umwelt gegenüber? Und sind diese Fragen Ausdruck einer eigenen Selbstgerechtigkeit oder Anzeichen eines sich grundlegend veränderten Miteinanders?
Achtsamkeit schärft den Blick – auch für das Unangenehme
Eines ist sicher, mit einer achtsamen Haltung wird man wacher für das Leben, und damit auch für das Unangenehme. Achtsamkeit ist kein Spaziergang mit einem ständigen Lächeln auf den Lippen. Besonders zu Beginn oder bei solchen Erlebnissen wie diesem Ausflug wird dem Praktizierenden sehr deutlich, wie unachtsam die Mehrheit der Menschen ist. Erst, wenn wir selbst zum Leben erwachen, wird uns bewusst, wie viel Schwierigkeiten und Unangenehmes es gibt und wie erfolgreich unser Unterbewusstsein bislang mit Ablenkung, Automatismen und Verdrängung daran gearbeitet hat, das nicht deutlich werden zu lassen. Erst wenn das Bewusstsein geöffnet wird für die eigenen inneren Vorgänge, für den anderen und die Welt, in der wir alle leben, wird einem bewusst, wie egoistisch und selbstgerecht ein Leben im Autopiloten sein kann.
Eine neue Straße macht zunächst viel Arbeit…
Es fühlt sich manchmal so an, wie wenn man eine Straße reparieren möchte: zunächst einmal muss man den alten Belag wegfräsen und die Straße komplett aufreißen, bevor Schicht für Schicht ein neuer Belag verlegt werden kann.
Wo man bislang vielleicht umzog, ein neues Autos mit besserer Federung kaufte oder einfach eine lange und umständliche Umleitung fuhr, so wird nun deutlich, dass die eigentliche Straße des Lebens immer wieder aus rauen und holprigen Stellen besteht – und man sich aus Bequemlichkeit daher einfach immer scheute, sie zu befahren. Die Umleitung wurde ja auch mittlerweile zur Gewohnheit. Hat man aber einmal den für sich richtigen Weg eingeschlagen, dann gibt es oft kein Zurück mehr, und die holprige und ungewohnte Straße wird zur Herausforderung, die angenommen werden muss. Aber es gibt nun keinen Weg mehr vorbei, und die Neugier und die immer wieder wunderbare Aussicht motiviert regelmäßig neu zur Weiterfahrt, die aber auch immer wieder stocken kann.
Daher ist es nur ein müßiges Gedankenspiel, sich damit zu beschäftigen, ob sich nun die anderen verändert haben oder man selber einfach aufmerksamer bzw. sensibler geworden ist. Es spielt überhaupt keine Rolle. Alles, wirklich alles, wird zur Übung und zur willkommenen Herausforderung – und zu einem Lehrmeister in der Wirkungsweise des menschlichen Gehirns. Schlussendlich kann ich ohnehin keinen anderen ändern, sondern nur darauf achten, dass ich mich an die Regeln halte und so meinen eigenen Kindern ein Vorbild bin. Ich kann nur an meiner eigenen Straße (mit)bauen und sie Stück für Stück ebnen, während ich auf ihr gehe. Und nein, ich werde sicherlich nie wieder in einen Wildpark fahren.