Jon Kabat-Zinn, der Begründer des Programms „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR = mindfulness-based stress reduction), hat neun Aspekte als Kern der Achtsamkeitspraxis herausgestellt. Wenn wir diese Qualitäten üben und sie dadurch in uns kultivieren, dann kann das uns dabei helfen, ein achtsames und waches Leben zu führen, ein Leben im Hier und Jetzt und mit allem, was dazu gehört: Höhen und Tiefen und die Mitte.
Der Anfängergeist
Der Anfängergeist oder der Forschergeist nimmt alles wahr, als wäre es zum ersten Mal: aufstehen, duschen, Frühstück essen, den Partner begrüßen, die Sonne sehen, den Weihnachtsbaum schmücken. Dabei wohnt dieser Haltung zum Leben eine einzigartige Magie inne, die anerkennt, dass tatsächlich jeder Augenblick neu und frisch ist, noch nie in dieser Form dagewesen ist und auch nie wieder so sein wird. Jetzt genau in diesem Moment liegt die ganze Fülle des Lebens vor uns, und dies ermöglicht uns ein Ausbrechen aus Routine, aus alten Denkmustern und Langweile. Mit Anfängergeist liegen uns unzählige Möglichkeiten offen, und das Staunen und die Neugier werden zum Tor für dieses gegenwärtige Leben. Wenn wir jeden Augenblick als frisch und neu empfangen, öffnen wir unser Herz für das Wunder „Leben“, für das Außergewöhnliche im Alltäglichen.
Staunen und neugierig sein
Wenn wir für jeden Augenblick wach sind und neugierig auf das, was kommen mag, dann lösen wir uns von Erwartungen und Wünschen und können unser Leben leben wie ein Forscher, der fremdes Land erkundet. So wird aus dem regelmäßigem Sportprogramm ein gegenwärtiges und damit einzigartiges Erleben des Körpers und unserer Haltung zum Körper. Aus dem allabendlichen Essen mit der Familie wird eine einmalige Erfahrung von Miteinander der verschiedenen Persönlichkeiten und gegenwärtigen Stimmungen. Wenn wir uns erlauben, offen und neugierig zu sein und unsere eigene Agenda und unsere Idee, wie etwas sein sollte, fallenlassen können, entfaltet sich vor unseren Augen das pure Leben, in seiner ganzen Fülle und so, wie es ist. Wie ein kleines Kind können wir die Augen öffnen und neugierig sein auf diese große Welt und unser Leben, dann ist jeder Augenblick spannend und einzigartig.
Unser Alltag macht es uns schwierig
Diese Haltung zum Leben setzt eine Wachheit und Bewusstheit voraus. Tatsächlich ist es wirklich schwierig, dies anzuwenden, und es benötigt Übung und eine klare Absicht.
Wenn mein Sohn beispielsweise abends vor dem Schlafengehen bereits seit Wochen das gleiche Buch heraussucht und schon seine Schwester stöhnt „Nicht schon wieder die Eis-Geschichte!“, dann spricht sie aus, was mein Geist impulsartig denkt. Wenn meine Kinder sich streiten, wer denn nun zuerst die Zähne geputzt bekommt – obwohl der Grund des Streits eigentlich ein angenehmer ist –, dann kreisen meine Gedanken um „Nicht schon wieder… Jeden Abend die gleiche Zankerei. Ich kann es nicht mehr hören.“ Wenn die Waschmaschine zum dritten Mal heute piepst und auf das Ausräumen wartet, dann bin ich zunächst genervt von der erneuten Unterbrechung meiner Tätigkeit. Schon wieder die Wäsche machen, wie langweilig.
Unser Alltag trägt schon im Wort, wie es sich meist anfühlt: alle Tage, jeden Tag das Gleiche.
Die Kraft der Achtsamkeitspraxis
Wenn wir uns immer wieder bewusst dafür entscheiden, den Augenblick mit einem Forschergeist zu betrachten, ohne auf das erwünschte oder erwartete Ergebnis zu hoffen, dann können wir eine innere Neugier kultivieren, unseren urteilenden Geist beruhigen und den Tag mit mehr Freude erfahren. Eine offene Haltung, die natürlich auch Gemütszustände wie Langeweile, Genervtheit und Ungeduld freundlich wahrnimmt, erlaubt uns, im gegenwärtigen Moment zu bleiben und vielleicht überrascht zu werden. Nur so kann ich wahrnehmen, mit welcher Begeisterung und täglich tiefer gehendem Verständnis mein Sohn die Gute-Nacht-Geschichte in sich aufnimmt, und mich daran und mit ihm freuen. Nur so kann ich mit Geduld und Verständnis den Kindern zeigen, wie man Konflikte (Wer ist heute „erster“? Weshalb ist es nicht wichtig, wer „erster“ ist?) friedlich und selbständig löst. Nur so kann ich die bewusste Entscheidung treffen, das Wäschemachen als Achtsamkeitsübung für die fünf Sinne zu nutzen (Wie fühlt es sich an? Welche Farben und Formen sehe ich? Wonach riecht es? Welche Geräusche machen eigentlich die Wäscheklammern?).
Den Anfängergeist zu schulen ist nicht einfach, aber es lohnt sich, sich immer wieder darauf zu besinnen und es auszuprobieren. Vielleicht verlaufen der Tag und die Momente dann ganz anders, als man ursprünglich dachte. Zudem trägt ein Tag voller Neugier und Offenheit dazu bei, sich am Ende des Tages nicht so erschöpft und von alltäglichen – vermeintlich nichtssagenden – Aufgaben frustriert zu fühlen, sondern wach und inspiriert von der Fülle des eigenen Lebens.