“Achtsamkeit während eines Notfalls”, so hat Daniel Rechtschaffen seinen Artikel überschrieben, von dem ich kürzlich gesprochen habe. Darin geht es um die drei R der Achtsamkeit: Regulierung, Resilienz und Realisierung. Ob Notfall oder nicht, das Leben ist, wie es ist, und es ist immer wieder und immer noch herausfordernd. Wenn diese Pandemie-Krise vorbei sein wird – wie auch immer das aussehen mag – dann kommt eine neue bzw. gibt es ohnehin bereits jetzt mehrere verschiedene Krisen parallel. Das ist einfach das Naturgesetz der ständigen Veränderung. Oder wie man es lapidar ausdrücken könnte: „Irgendwas ist immer.“
Die drei R der Achtsamkeit
Die drei R sind daher immer hilfreich, und hier soll es nun um das dritte R gehen: Realisierung. Nach der Selbst-Regulierung – das eigene Nervensystem beruhigen, einen kühlen Kopf bewahren, sich immer wieder verankern im Hier und Jetzt – und der Resilienz – die Praxis und das Bewusstsein vom Meditationskissen in den Alltag bringen und sich der eigenen Gedanken und Emotionen bewusst sein, ohne von ihnen überwältigt zu werden – geht es nun um den nächsten Schritt: die Erkenntnis, dass wir alle miteinander verbunden sind und voneinander abhängen.
Wir sind alle miteinander verbunden
Ja, es geht hier um das große Ganze, um das „mwe“ (englisch: me+we=mwe), wie Daniel Siegel es ausdrückt. Natürlich ist jeder für sich ein eigener Charakter mit einer eigenen Geschichte, eigenen Bedürfnissen und einem eigenen Körper. Aber keiner kann überleben oder gar wachsen ohne den anderen. Unsere gegenseitige Abhängigkeit wurde sehr deutlich zu Beginn des Lockdowns: Transportketten, Telekommunikation, geöffnete Supermärkte, Krankenhäuser und Dienste wie die Müllabfuhr oder die Post. Ohne andere Menschen und ein Miteinander würden wir nicht überleben. Und immer mehr Studien belegen, dass Einsamkeit mehr noch als Alkohol oder ein erhöhter BMI zu verfrühter Sterblichkeit beiträgt. Wobei hier wichtig zu erwähnen ist, dass physische Distanz nichts mit Einsamkeit zu tun hat, ein Lockdown also höchstens ein Verstärker, aber nicht der Grund für soziale Einsamkeit war bzw. ist.
Wir sind voneinander abhängig, im Guten wie im Schlechten. Soziale Interaktionen, die Einhaltung gemeinschaftlicher Regeln und Normen, Respekt und gegenseitige Hilfestellung, Abbau von mentalen und oft zutiefst unbewussten Abgrenzungen (ich vs. „der/die andere“) – die Achtsamkeitspraxis ist hier unabdingbar, um ganz bewusste Entscheidungen zu treffen. Wie will ich mein Leben leben? Wie will ich mit meinen Mitmenschen umgehen? Wo gibt es Fehler und Lücken, und wie kann ich dazu beitragen, diese sinnvoll und nachhaltig zum Besseren zu verändern? Wie gehe ich mit der Natur, mit Tieren, mit Gegenständen um? Wo trage ich unwissentlich zu Leid oder Schaden bei und wie kann ich bewusster und einladender werden in meinen Worten, Taten und Gesten?
Tun, was richtig ist – im Kleinen wie im Großen
Immer wieder höre ich diese Stimme in mir: „Was kann ich denn schon bewirken?“ Da sind der Klimawandel, Waldbrände, Überflutungen, Flüchtlingskrise, entscheidende Wahlen, gefälschte Wahlen, Krankheiten, Mobbing, Fake News und ihre Anhänger, sinnlose Aggression, illegale Autorennen mit Todesfolge, usw. Genau hier ist es wichtig, den ersten Schritt anzuwenden: Regulierung. Das Gehirn ist darauf gepolt, Schreckensnachrichten aufzusaugen. Mit diesem Wissen kann ich mich immer wieder zurückholen, raus aus den destruktiven und manchmal fassungslosen Gedanken. Atmen, den Boden spüren, wissen, was in mir vorgeht, und zurückkehren zu diesem Moment, in welchem ich am Leben und in Sicherheit bin.
Mit dieser Resilienz kann ich dann für mich entscheiden: Ich tue das, was in meiner Macht steht, in meiner kleinen Welt, in meinem kleinen Umfeld, in meiner kleinen sozialen Gemeinschaft, was dazu beiträgt, dass das Miteinander funktioniert. Ich kann darauf achten, was und wie ich konsumiere. Ich kann darauf achten, wie ich mit anderen kommuniziere. Ich kann darauf achten, welche Werte ich meinen Kindern vermittle, und mich selbst dabei ertappen, dass ich wertende Gedanken habe bezüglich der/die ist „anders als ich“ und „so würde ich nie“ sprechen, handeln, mich kleiden, essen, ...
Wahre Schönheit kommt von innen
Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh sagt: „Schönheit ist ein Herz, das Liebe hervorbringt, und ein Geist, der offen ist.“ Dieser Spruch begleitet mich seit Jahren und trägt mich ungemein. Habt ihr schon einmal erlebt, dass die Welt für einen winzigen Moment ein kleines bisschen heller und leichter scheint, wenn der Mensch gegenüber vor Zufriedenheit strahlt, weil es ihm einfach gut geht? Ich hatte letztens eine Situation mit meiner Tochter, als sie mich ansah und eine Welle des Wohlbefindens strömte von ihr aus und ergriff meinen ganzen Körper. Auf der anderen Seite aktiviert jede angespannte Stimmung die Stresshormone der Menschen drumherum. Stellt euch vor, es gäbe mehr dieser schönen Momente, mehr Freude, mehr Wohlbefinden, mehr dieser winzigen Augenblicke von Verbindung. Denn darum geht es letztendlich: Verbindung. Sie nährt uns, sie trägt uns, sie stärkt uns. Verbindung zur Natur, zur Umwelt, zu einem Tier, und natürlich zu den Menschen. Was ich in meiner kleinen Welt dazu beitragen kann, um diese lebenswichtige Verbindung täglich neu zu sehen und zu stärken und mich wieder daran zu erinnern, wenn ein Bruch entstanden ist – all das hat einen Einfluss auf das große Ganze. Denn das große Ganze setzt sich zusammen aus unzähligen dieser kleinen Welten und unzähligen Augenblicken.
Um es noch einmal mit Daniel Rechtschaffen zu sagen: Einatmen und mir bewusst machen, dass wir alle miteinander verbunden sind, in Liebe und in Leid. Ausatmen und mich selbst dazu verpflichten, meinen Beitrag zu leisten, einen klaren Kopf zu bewahren, die Verbindung zu stärken und Leid zu lindern.