„Du siehst ziemlich müde aus.“ Diese Aussage habe ich in den vergangenen Wochen oft gehört. Ja, ich bin müde. Es war viel – wie bei so vielen Menschen – und es wird nicht weniger. Es geht nicht nur um Corona und die seit Wochen erneut hohen Infektionszahlen. Es geht auch um das Geschehen in der nahen und fernen Welt, um das Klima, um persönliche Themen, um die Zukunft und um das Beschäftigen der Kinder in den Ferien. In diesem ganzen Funktionieren und Organisieren hat mir ein Konzept sehr geholfen, das Daniel Rechtschaffen, ein US-amerikanischer Therapeut und Experte für Achtsamkeit im Bildungswesen, kürzlich formuliert hat: Die drei „R“ der Achtsamkeit: Regulierung, Resilienz und Realisierung.
Regulierung
Von Regulierung handelte besonders der vergangene Artikel. Dabei geht es um die Verankerung im Hier und Jetzt und das bewusste Aussteigen aus den Gedankenspiralen. Was ist sonst noch da außer meinen Gedanken? Was spüre ich im Körper? Atmen, fühlen, Selbstfürsorge, sehen, verkörpert sein, immer wieder die Anspannung bewusst loslassen und das Nervensystem beruhigen. Es geht darum, der besonnene Kapitän auf dem Schiff auf hoher See zu bleiben, auch wenn da draußen ein Sturm tobt. Emotionen, Anspannung, Stress, alles das darf sein, und wir können es wahrnehmen und bewusst damit atmen, uns verankern und es als das anerkennen, was es ist: Empfindungen, Geisteswahrnehmungen, Gefühle, die kommen und gehen, und wir mittendrin als Fels in der Brandung, verankert im Körper und in der direkten Wahrnehmung der Gegenwart.
Und dann?
Aber da sollte die Achtsamkeitspraxis nicht aufhören, denn sonst nehmen wir den sogenannten spirituellen Umweg: So ist es einfach, ich atme, ich akzeptiere, und weiter. Nein, Resilienz, das zweite R, bedeutet, dass wir in die Welt hinausgehen, dass wir interagieren, dass wir uns öffnen für die Welt und die anderen Menschen. Mit der Verankerung im eigenen Körper und der stärkenden Praxis der Regulierung können wir das Herz und den Verstand dem zuwenden, was schwierig und wichtig ist. Sei es ein Kind, das nach einem Spielplatzbesuch das Knie aufgeschlagen hat und weint und meine Ruhe und Empathie braucht. Sei es das Tragen einer Maske (ja, auch über der Nase und auch wenn es mir selbst unbequem oder lästig ist) beim Einkauf oder beim Betreten eines Restaurants. Sei es in einer schwierigen Konversation zu bemerken, dass ich mich angegriffen fühle und meinerseits in den Angriffsmodus gerate. Oder sei es das Bemerken des Gefühls von Hilflosigkeit und Überforderung beim Lesen schlechter Nachrichten.
Es gibt täglich Situationen, in denen mein Anker sich löst und ich mich zu verlieren drohe. Reden, Handeln oder Helfen, ohne selbst in innerer Stabilität und Unterstützung verankert zu sein, führt zu Burn-Out oder Aggression. Statt Herz und Verstand regieren dann die Automatismen von Kampf, Flucht oder Erstarrung. Die Praxis der Achtsamkeit kann jedoch dabei helfen, zu bemerken, wenn Klarheit, Integrität und Menschlichkeit kurz davor sind, vom instinkt-gesteuerten Reptiliengehirn überrannt zu werden. Dann ist es meine Aufgabe, innezuhalten und zu bemerken, dass ich gerade von Bewertungen, Vorurteilen oder großen Gefühlen getrieben werden, anstatt mit meinen Werten eines menschlichen Miteinanders verbunden zu sein und alle inneren Vorgänge wahrzunehmen.
Regulierung und Resilienz im Alltag
Wie sieht das bei mir konkret aus? Wenn möglich, beginne ich den Tag mit achtsamen Bewegungen und einer Meditation und widerstehe dem Impuls, die Nachrichten-App anzusehen. Ich widme mich zunächst meiner eigenen kleinen Welt und meinem Körper und meinen wilden Gedanken, bevor ich die Tore öffne für die Welt. Ich versuche, den Konsum von Nachrichten auf ein- bis zweimal am Tag zu reduzieren. Immer wieder baue ich kleine Pausen ein und schließe die Augen und höre, atme, bemerke die inneren Vorgänge. Ich schreibe regelmäßig in ein Buch, um Gedanken und Gefühle besser greifen zu können. Vor dem Essen gibt es einen Gong, ein Moment des Lauschens auf den eigenen Körper. Falls möglich, ist die Natur ein täglicher Begleiter: Blumen riechen, Spaziergang, barfuß im Garten, in den Himmel sehen, den Vögeln nachschauen, etc. Manchmal sind das nur ein paar Minuten am Tag, aber dann in ihrer ganzen Fülle. Ich schreibe an Freunde und nutze diese Gelegenheiten, um nach innen zu spüren, was da gerade ist. Was will ich mitteilen? Was ist wichtig? Was ist wahr? Dankbarkeit ist ein großer Teil meiner Praxis, die mich immer wieder verankert in dem, was da ist und was ich alles schon habe. Ich bemühe mich auch, den Menschen in meinem Haushalt in die Augen zu sehen und zu bemerken, was für ein Bedürfnis da gerade vorhanden ist. Ich versuche, präsent zu sein mit Verstand und Herz und zu bemerken, was da in mir ist und was ich jetzt gerade geben kann und wo meine eigenen Grenzen sind.
Regulierung und Resilienz sind eng miteinander verbunden. Regulierung ist die Basis, der Anker, das Kultivieren einer inneren Zuflucht und verkörperten Stabilität. Atmen, sehen, hören, hier sein. Den Stress und die Anspannung wahrnehmen und sich bewusst einige Momente nehmen, um alles zu spüren und bewusst loszulassen, was gelöst werden kann. Mit diesem inneren Gleichgewicht dann mit geöffneten Augen durchs Leben gehen, das ist Resilienz. Da sein, zuhören, sprechen, helfen, sich helfen lassen, gegen Unrecht sprechen oder handeln, sich selbst und andere schützen, andere sehen, verschiedene Meinungen aushalten – alles mit dem Bewusstsein der inneren Vorgänge und gleichzeitiger innerer Stabilität und Ruhe. Resilienz bedeutet auch, zu bemerken, wenn der Anker sich zu lösen droht, und dann die innere Balance wiederfinden und sich neu verankern im Hier und Jetzt. Das Leben leben mit Klarheit, Weisheit und Mitgefühl.
Schwierige Gefühle und Gedanken kommen immer wieder
Schützt mich das vor schwierigen Gefühlen und Gedanken? Nein, überhaupt nicht. Ohnehin ist das gar nicht möglich, denn Emotionen und Gedanken, egal welcher Färbung, kommen einfach. Es gibt immer wieder Momente der Überforderung, der „Schwarzmalerei“, der Traurigkeit oder der extremen Anspannung, auch mal über längere Zeit hinweg. Aber dann werde ich mir dessen bewusst und komme zurück zu dem, was manche Meditationslehrer die „Zuflucht im hier und jetzt“ nennen, die „Zuflucht im Herzen“, eben die Selbstregulierung. Atmen, den Boden und die Schwerkraft spüren, die Lebendigkeit im Atem spüren, ein „Es ist ok.“ oder „Ich kann das.“ hilft zuweilen sehr. Bemerken, dass ich diesen harschen und strengen Teil in mir kenne, der sich gerade durch den Alltag motzt. Oder diesen hilflosen Teil. Und diesen ängstlichen auch. Dann suche ich mir auch mal eine Meditation aus einer App heraus und lasse mich leiten. Oder ich nehme ein Buch zur Hand. Und ich erinnere mich an die drei „R“ von Daniel Rechtschaffen: Regulierung, Resilienz und Realisierung. In dieser Reihenfolge.
P.S.: Um Realisierung wird es in einem späteren Artikel gehen.