Das Interesse an der Achtsamkeitspraxis wächst. Mich erreichen vermehrt Anfragen von Schulen und Institutionen für Kurse und Workshops und ich komme dem gerne nach. Viele haben bisher nur das Wort “Achtsamkeit“ gehört und dass es irgendwie helfen soll mit Stress. In meiner schriftlichen Begrüßungsnachricht vor Beginn erwähne ich immer, dass ein achtsamkeitsbasierter Kurs aus drei Teilen besteht: theoretischer Input (von mir), Praxis (Meditation, Reflexion) und Austausch. Wie diese Teile gewichtet werden, hängt dann auch von der Gruppe ab, von den Erwartungen und der Zielsetzung und von den eventuellen Vorkenntnissen der Teilnehmer.
In der verkopften und analytischen Umgebung, in der die überwiegende Mehrheit meiner Teilnehmer lebt und arbeitet, ist der Zugang über den Verstand (also die Theorie) meistens der Weg, um überhaupt Interesse zu wecken und erklären zu können, was Achtsamkeit eigentlich ist. Ich mache aber meist direkt zu Beginn eine praktische Übung, um es selbst erfahren und erleben zu lassen, z.B. mit der Rosinenübung, Bewegung oder Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks im Körpers. Dann reden wir über die Haltung der Achtsamkeit, logisch aufgebaut, hoffentlich nachvollziehbar, mit Beispielen aus dem Alltag, Autopilot, Negativitätstendenz, innere Vorgänge und sinnliche Erfahrung. Die Teilnehmer sind interessiert, oft entstehen sogar ein paar kleine Aha-Momente. Das alles ist noch innerhalb der Komfortzone.
Achtsamkeit ist eine Praxis…
Aber dann kommt bald auch schon die erste Übung: den Körper sitzen spüren, das Hiersein wahrnehmen („ich sitze, ich atme, ich lebe“), einen Anker finden, das Abschweifen der Aufmerksamkeit feststellen, interessiert wahrnehmen und mit so viel Geduld und Nachsicht wie möglich zum Anker zurückkehren. Kontaktpunkte, Atem, Körper – alles das, was Anker für die Gegenwart sein kann. Diese Übung dauert meistens etwa 10 Minuten. „Ich kann das nicht.“ oder „Das hat gar nicht geklappt.“ wird in der anschließenden Erforschungsrunde mindestens einmal gesagt. Natürlich gehe ich darauf ein, ordne das ein als Bewertung und Gedanke, lasse nachspüren, was dieser Satz bewirkt, spreche von Neugierde und Geduld, vom Ausprobieren und dass es genau darum geht: zu bemerken, wie schwer es ist, „nichts“ zu tun und mit dem zu sein, was ist. Die verbale Kommunikation und die Körpersprache signalisieren meinem bewertenden Gehirn dann oft: Diese Person ist raus. Sie denkt gerade: „Häh? Warum soll ich auf meinen Atem achten? Kann ich halt nicht! Und?! So ein Blödsinn.“ Und: Ich habe es ihr wohl nicht gut genug erklärt, oder ich gehe nicht gut genug damit um, dass es Schwierigkeiten gibt. Und dann bemerke ich manchmal diesen inneren Antrieb und Perfektionismus, alle Teilnehmer erreichen zu wollen und ihnen die Kraft der Achtsamkeit deutlich zu machen, trotz der inneren Einsicht, dass das keineswegs meine Aufgabe ist. Ich gebe nur, was ich geben kann. Den Weg gehen muss jeder selbst.
In der Komfortzone bleiben wollen
„Ich kann es nicht.“ bewirkt ganz viel bei den Teilnehmern. Dieser Gedanke, der vielleicht bekannt ist aus früheren Erfahrungen; der ein unangenehmes Gefühl von Scheitern oder Versagen hervorruft. Diese vier Worte, die in unserer Leistungsgesellschaft und der rasanten „jetzt direkt!“-Ausrichtung der Technologie und der ganzen Gesellschaft voller Erwartungen einfach nicht hineinpassen. Wenn es kein direktes Ergebnis gibt, welches zu fühlen oder zu sehen ist, dann bringt das doch alles nichts. Oder? Wie soll atmen und das Atmen spüren, wie soll „Nichts-Tun“ mir dabei helfen, mit meinem Berg an Aufgaben besser klarzukommen?!
„Ich kann das nicht.“ ist ein Schutzgedanke, der unterbewusst wirkt: Ich habe es schon schwer genug, und so eine Übung bringt mich aus meiner Komfortzone heraus. Damit will ich jetzt nicht umgehen. Wenn es schwierig ist, will ich Komfortzone, schnelle Lösungen, Hoffnung, greifbare Resultate, Erleichterung, ein klares schwarz oder weiß. Und hier liegt das Problem: „Achtsamkeit ist kein Quick Fix. Es ist ein lebenslanger Prozess, ein Sein, ein Leben mit dem, was gerade ist. Es gibt kein Ende und schon gar kein Ziel.“ Auch das sage ich, und ich vermute, das ist gerade zu Beginn nicht einfach zu verstehen. Und es ist wahrscheinlich nicht das, was viele Teilnehmer hören wollen: außerhalb meiner bekannten Welt, etwas Neues probieren, geduldig sein, immer wieder neugierig sein und nichts erwarten.
Vertrauen entwickeln
Aber Teil meines eigenen Prozesses ist es, nichts verkaufen zu wollen. Ich gebe das, was da ist. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich erzähle meine eigene Wahrheit, meinen eigenen Prozess, der deutlich macht: es braucht Zeit, es braucht Geduld, es braucht Neugierde, es braucht Vertrauen. Für analytische Menschen wie mich kann das Vertrauen durch Studien und Forschung entstehen. „Da scheint schon was dran zu sein. Dann probiere ich das halt mal ‘ne Weile aus…“ Für andere entsteht eher inneres Vertrauen, ein Spüren. Keines ist besser, jeder hat seinen eigenen Zugang. Und vielleicht braucht es manchmal auch ein kleines bisschen Verzweiflung. Verzweiflung am Leben, welche einen dann durch dieses ungewohnte Gefühl trägt, mit fremden Menschen und manchmal an einem Bildschirm für 10 Minuten einfach mal nichts zu machen und dem Lebendigsein zu lauschen. Die Verzweiflung, welche einen auch trotz der unbefriedigenden Erfahrung und der Bewertung „Ich kann das nicht.“ antreibt, neugierig zu bleiben und es einfach noch einmal und noch einmal zu versuchen. Später, zu Hause, gemütlich auf dem Sofa, wenn keiner zusieht und ich mir nicht so beobachtet und doof vorkomme.
Wenn irgendwann ein Vertrauen in sich selbst entsteht – übrigens etwas, was sich nur entwickeln kann, wenn man etwas immer wieder versucht, sich durch kleine Rückschläge nicht entmutigen lässt und einfach dranbleibt – dann kann etwas ganz Unglaubliches geschehen: die Fähigkeit, das eigene Leben zu leben, so wie es ist. Das klingt vielleicht banal, ist aber das Schönste, was ich mir vorstellen kann: die Zeit, die man hat, zu nutzen – für sich, für seine Lieben, für die Gesellschaft, für die Natur. Es bedeutet, mit dem inneren Kampf aufzuhören, und sich dann auf das zu konzentrieren, was hier ist und wogegen man in der Welt wirklich kämpfen muss. „Ich kann das nicht.“ ist nur ein Gedanke, nur eine Bewertung, ein alter Schutzmechanismus. Er ist nicht der Maßstab, der unser Leben bestimmen sollte. Mutig sein, es trotzdem versuchen, neugierig bleiben und sich in das Abenteuer Leben stürzen. Wenn jedes Kleinkind beim ersten Laufversuch denken würde: „Das fühlt sich total komisch und wackelig an. Getragen werden ist viel einfacher, das kenne ich, da fühle ich mich wohl. Auch wenn andere laufen: Ich kann das nicht.“, dann sähe unser Leben als Menschen wohl ganz anders aus. Bei der Achtsamkeit kann man keine Fehler machen oder etwas nicht können. Es gibt keine falsche oder richtige Erfahrung, es gibt nur Erfahrung.
Wir meditieren nicht, um bessere Meditierende zu werden. Wir meditieren, um bessere Menschen zu werden und um besser mit dem Leben umgehen zu können. (nach Thich Nhat Hanh)
Übrigens: Wachstum und Veränderung gibt es nur außerhalb der Komfortzone. „Ich kann das nicht.“ – Echt nicht? Wer sagt das eigentlich? Und geht es überhaupt darum?