Gewöhnlich steht das Thema und der Titel eines Beitrags, ehe das Schreiben beginnt. Jetzt nicht. Alles scheint verändert, entrückt, entwurzelt. Und dann ist da der Blick aus dem Fenster und die Sonne strahlt, die ersten Blumen blühen, im Garten bauen Elstern ein Nest im Baum. Seit über zwei Wochen ist die Weltordnung, wie ich sie von klein auf kenne, im Umbruch, in einem lauten, brutalen und von außen unbegreiflichem Wandel. Das erzeugt Ohnmacht und die Frage: und jetzt? Wie gehe ich damit um? Ein paar Gedanken, inspiriert von der wunderbaren Tara Brach.
Es kristallisieren sich drei Haupt-Muster heraus, wie viele Menschen mit der Ohnmacht und dem Unbegreiflichen umgehen.
1. Trennung
Im Englischen wird das gerne „othering“ genannt, also „den anderen“ als getrennt und anders als sich selbst und dementsprechend als „falsch“ zu sehen oder zu bezeichnen. Die Trennung und Missachtung des zutiefst verbindenden – wir sind alle Menschen und wollen alle einfach nur gesund, glücklich und in Sicherheit sein! – als Kern von jeglicher Art von Gewalt, Unterdrückung und Verunglimpfung. Ja, jeder Mensch urteilt und bewertet, das ist eine biologische Veranlagung. Aber genau darum geht es bei der Achtsamkeitspraxis: Das Bewerten zu erkennen und sich bewusst zu entscheiden: nein, ich folge dem nicht. Ich schaue tiefer, ich gestehe jedem Menschen sein Recht auf Leben und Glück zu und ich trage dazu bei, dass es uns individuell und aber auch im Kollektiv gut geht. Ich bemühe mich um Kompromisse und bin offen, meine Gedanken von „so gehört sich das!“ und „das ist richtig, wie ich das sehe!“ zu hinterfragen und in den Dialog zu gehen. Auch wenn das Gegenüber keinen Dialog will, dann kann ich diese Intention dennoch zu meiner Grundlage von Miteinander machen und auf meine eigenen Worte und Handlungen achtgeben.
Am ersten Tag des russischen Angriffs postete jemand aus meinem Bekanntenkreis eine wüste Beleidung als Ausdruck seiner Missachtung. Ich fühlte mich getriggert und ließ das erst einmal sacken, ehe ich versuchte, eine Grenze zu ziehen und zu erklären, weshalb ich das nicht gutheißen kann. Es kam nicht gut an, die Gemüter sind immer noch erhitzt. Nun erst habe ich verstanden, was für mich wirklich das Problem war: ich konnte nicht ertragen, dass jemand, der im Grunde die gleiche Sichtweise und Meinung hat wie ich, in dieses Muster der Trennung verfällt und sich zu Beschimpfungen und verbalen Hass hinreißen lässt.
Nach der Freilassung aus dem Gefängnis in Südafrika sagte Nelson Mandela: „Niemand wird mit dem Hass auf andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ethnischen Herkunft oder Religion geboren. Hass wird gelernt. Und wenn man Hass lernen kann, kann man auch lernen zu lieben. Denn Liebe ist ein viel natürlicheres Empfinden im Herzen eines Menschen als ihr Gegenteil.“ Und auch in den ganz frühen buddhistischen Schriften heißt es: „Hass kann niemals Hass vertreiben. Nur Liebe vermag den Hass zu vertreiben.“ (Dhammapada, 1) Es ist leider allzu menschlich, in Wut, Hass und Trennung zu verfallen, wenn etwas so Unverständliches und Grausames geschieht wie jetzt in der Ukraine und – wenn wir ehrlich sind – schon immer geschehen ist auf der Welt, ob gegen Tier, Mensch oder Umwelt, nur dass es uns manchmal näher geht als andere Male. Und ja, es fühlt sich jetzt anders an, größer, schwerwiegender, und viele geostrategische und politische Experten unterstützen die These von der gegenwärtigen langfristigen „Umwandlung der Weltordnung.“
Und dennoch wird der Gegenhass, diese Reaktion aus dem Alarmsystem heraus, keinen Frieden bringen. Was also tun? Dazu später mehr.
2. Abschalten
Ohnmacht kann verschiedene Reaktionen hervorrufen, und eine weitere davon ist das Abschalten. Sich ablenken, „das ist weit weg“ oder „das betrifft mich nicht“, bewusst keine Nachrichten schauen, „das verstehe ich ja doch nicht.“ Es ist leicht, sich innerhalb der eigenen Blase zu bewegen und sich abzuschotten gegen den tiefen Schmerz und die Angst. Wir tun weiterhin das, was bequem und innerhalb der eigenen Komfortzone ist. Wir sprechen vielleicht von den armen Menschen dort, aber wir wollen nicht näher hinsehen, nicht hinspüren. „Was kann ich denn schon tun?“
Angst ist hier der Kern dieser Reaktion. Angst vor Veränderung, vor Kontrollverlust, vor jeglicher Art von Verletzung oder Umwälzung. Angst davor, dem nicht gewachsen zu sein, was da kommen mag. Angst vor den rohen Emotionen. Die Büchse der Pandora nicht öffnen wollen, den Brief mit der Rechnung nicht öffnen, dann ist sie irgendwie auch nicht da. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Auch das ist eine zutiefst menschliche Reaktion, auch hier ein Zeichen des Bedrohungssystems, aus dem alten Hirnstamm, das darauf ausgelegt ist zu überleben, sei es mit Kampf, mit Flucht oder mit Erstarren. Wir sehen vielleicht die Bilder, die Videos, aber wir fühlen nicht mit. Das ist ein Schutzmechanismus, den wir umso vehementer verteidigen, desto dringender die Nachrichten und Erkenntnisse werden.
Als ob die Welle sich immer höher auftürmte und wir uns bemühten, den Schutzwall immer höher und höher zu bauen und gleichzeitig mit wachsender Hektik bemerkten, dass der Steinhaufen immer kleiner wird, die Welle aber immer höher. Früher oder später wird sie hereinbrechen, und dann kommt die Flut mit doppelter und dreifacher Wucht. Oder aber wir lassen zu, dass wir die Welle – obwohl sie da ist – gar nicht mehr spüren, weil das Unbegreifliche schon so lange dauert, dass es zur neuen Normalität wird. Ok, dann werden wir eben mal wieder nass, wie schon während der Pandemie. Ja und? Das passiert. Weiter geht’s!
3. Überwältigung
Es gibt noch eine dritte Version der Reaktion, und das ist die Überwältigung des Systems. Zu viel Leid, zu viel Schmerz, zu viel Empathie, zu viel Grausamkeit, zu viele Katastrophenszenarien im Gehirn. Vielleicht ist es bekannt, dieses Ziehen im Magen, wenn man morgens die Nachrichten ansieht und sich auf „das Schlimmste“ gefasst zu machen versucht – was auch immer „das Schlimmste“ sein mag, denn so spezifisch ist es ja gar nicht, eben weil es so unbegreiflich und unbekannt ist. Überwältigung geschieht, wenn wir gar keinen Abstand mehr nehmen und für Stunden oder Tage versinken im Nachrichten-Feed, in Updates, in endlosen Diskussionen, in Sonder-TV-Sendungen und in Gedankenschleifen.
Diese Art von Beschäftigung kommt oft aus dem Bedürfnis nach Kontrolle, was natürlich eine Illusion ist. Es gibt keine Kontrolle, aber irgendwie scheint es, mit mehr Informationen gäbe es auch mehr Wissen und dadurch mehr Kontrolle. Aber schon Sokrates stellte weise fest: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Mehr Information führt oft zu noch mehr Variablen, noch mehr Aspekten, noch mehr Unklarheiten, noch mehr Ohnmacht – und dann entsteht ein Teufelskreis, denn auf der Suche nach Halt suchen wir ihn genau dort, wo er nicht zu finden ist. Und: praktisch jede Art von Information hat immer eine menschliche Komponente, also auch eine Bewertung oder narrative Ausrichtung. Wir wissen nie alles, was wiederum das Gefühl von Unverständnis und Verwirrung verstärkt.
Und jetzt? Was lehrt uns die Praxis? Was ist engagierte Spiritualität?
1. Verbindung statt Trennung
„Nur Liebe vermag den Hass zu vertreiben.“ Es gibt keinen anderen Weg. Wenn wir es erlauben, dass die gewaltvollen Teile in uns geweckt oder gestärkt werden, die auf Hass mit Gegenhass und verbaler Aufrüstung oder Aggressivität reagieren – und diese Teile stecken in jedem von uns, sie sind Teil unseres biologischen Erbes – dann entsteht eine Spirale von Reaktivität und Unmenschlichkeit, aus der es nur ganz schwer einen Ausweg gibt. Große spirituelle Anführer wie Ghandi oder Nelson Mandela haben sich immer wieder Auszeiten genommen, um in ihrem aktiven Handeln mit Hilfe von Meditation, Gebet oder einer anderen Praxis die Verbindung zu ihrem Kern nicht zu verlieren. Es geht darum, das Tun aus dem Sein entstehen zu lassen und nicht aus dem Autopiloten und dem inneren Alarmsystem (unserem „Dinosaurier“-Gehirn) heraus. Wir sind Menschen. Wir sollten besonders in schwierigen Zeiten Menschen bleiben und jeder für sich seinen Teil dazu beitragen, dass das Menschliche die Oberhand behält oder zurückgewinnt. Und da ist keine Handlung oder Äußerung zu klein. „Sei du der Wandel, den du in der Welt sehen willst.“ (Mahatma Ghandi). Oder, um mit einem in der Achtsamkeitsszene bekannten Bild zu arbeiten: „Mein Kind, es gibt zwei Wölfe in meiner Brust. Einen bösen, der hasst, tötet, kämpft und vernichtet. Und einen guten, der liebt, umsorgt, sich kümmert und verbunden ist. Beide Wölfe kämpfen ständig miteinander.“ „Und wer gewinnt?“ „Es gewinnt der Wolf, den ich füttere.“
2. Sich kümmern statt Abschalten
„Das Sich-Kümmern ist das Herz der Achtsamkeitspraxis.“ sagt Jon Kabat-Zinn. Wer auf dem Weg der Achtsamkeit, der Verbundenheit und der Menschlichkeit geht, der kommt nicht umhin, sich zu kümmern. Achtsamkeit ist keine richtige Achtsamkeit, wenn das Herz nicht mitschwingt. Mit einer achtsamen Haltung auf die Tasse Kaffee, auf die Blume, auf mein Kind, auf ein Nachrichten-Bild zu schauen bedeutet, eine Verbindung herzustellen. Es geht um wirkliches Interesse, darum, „auf die wunde Stelle zu schauen“ (Rumi), um die gelebte Menschlichkeit. Es geht um die Bereitschaft, das Herz offen zu lassen oder es immer wieder neu zu öffnen. Der Herz öffnen für die Osterblumen im Garten, die Elstern-Eltern im Nest, die flüchtenden Kinder mit leerem Blick und die zerbombten Häuser. Und ja, der Grad ist schmal, manchmal sehr schmal, zwischen sich kümmern und überwältigt werden. Aber Tränen sind erlaubt, Ohnmacht ist erlaubt, tiefe Traurigkeit und Schmerz sind erlaubt, heftige Gefühle angesichts von Trauer und Leid sind erlaubt. Das bedeutet es, Mensch zu sein!
Manchmal wird es zu viel, dann sind Methoden von unten (Punkt 3) wichtig. Mit Hilfe der Praxis können wir uns immer wieder einlassen und merken, wenn es zu viel wird. Es ist z.B. nicht hilfreich, sich zehn Minuten vor dem Nach-Hause-Kommen der Kinder in die Nachrichten zu vertiefen, weil wir dann nicht für das da sein können, was jetzt im Alltag wichtig ist: das Leben leben, für die Kinder da sein, bei Kräften bleiben, Sicherheit bieten, mit ihnen die Französisch-Vokabeln wiederholen. Eine konstante und gelebte Achtsamkeitspraxis wird dabei helfen, das gegenwärtige eigene Leben zu leben UND offen zu bleiben für das, was gefühlt und gesehen werden muss, wenn wir als Menschen leben möchten.
3. Innere Ressourcen stärken
Das ist eine ganz individuelle Praxis, und jeder hat seine eigenen Methoden. Es geht hier um Erdung, um Verankerung. Den Boden spüren, die Erde spüren, Zuflucht finden im Atem und im Körper. Das Ausatmen verlängern. Die Natur und die Lebendigkeit aufsaugen. Die Sinne benutzen und hören, schmecken, riechen, fühlen, sehen. Sich bewusst machen: Ich bin hier. Jetzt. Ich bin lebendig. Ich atme. Ich höre. Tanzen, bewegen, gehen, mit Tieren kuscheln. Mit Kindern lachen. Sich verbinden: Ich bin Teil von etwas. Eine gemeinsame Vision haben, gemeinsam Hoffnung haben. Sich austauschen auf einer Ebene von ehrlicher Verbundenheit. Einander zuhören. Die Menschlichkeit teilen. Wir müssen da nicht alleine durch. Sich gegenseitig halten, stützen, trösten, stärken. Ängste teilen, Ressourcen teilen, Freude teilen, Liebe teilen, Verbundenheit teilen.
Nun hat sich ein Titel gefunden: die beiden Wölfe, die jeder von uns in sich trägt. Welchen füttern wir? Es ist menschlich und normal, den wütenden und kämpfenden Wolf in sich zu haben und ihn immer wieder unbewusst zu stärken. Achtsamkeit zu praktizieren bedeutet zu bemerken, dass wir eine Wahl haben, wie es weitergeht und was unser Leben und unsere Beziehungen dominieren soll. Ich sage nicht, dass es leicht ist. Ich sage nur, dass es möglich ist. Jeden Moment, jeden Tag, jede Stunde aufs Neue. Was ist jetzt da? Und wie gehe ich damit um? Was ist zu tun – im kleinen Alltag meines Lebens und im großen Zusammenhang der Welt? Ich bin Teil der Welt, aber ich bin der Welt nur dienlich, wenn ich mich sowohl zuwende als auch nicht überrollen lassen.