Das deutsche Wort „Achtsamkeit“ ist eine unglückliche Übersetzung. Oft schwingt eine Bedeutung von „pass auf, hab Acht!“ mit, was eine gewisse Dringlichkeit oder Pflicht ausdrückt. Dabei beinhaltet die Praxis der Achtsamkeit ein Gefühl von Leichtigkeit, von Mühelosigkeit, von Lebendigkeit. Jedoch ist Achtsamkeit im deutschsprachigen Raum so ein geflügelter Begriff geworden, ähnlich wie das englische „mindfulness“, dass es sich seltsam anfühlt, es nicht zu verwenden.
Es geht aber mitnichten um aufpassen oder achtgeben. Es geht auch nicht um Stressbewältigung oder um Fokus. Es geht um so viel mehr. Es geht darum, sich zu erinnern. Sich an das Leben erinnern, an den gegenwärtigen Augenblick, daran, dass wir einen Körper haben, der uns gerade Signale sendet, sich erinnern, sich umzusehen und wirklich wahrzunehmen: „Wo bin ich? Wer ist gerade bei mir?“, sich erinnern, nach innen zu lauschen: „Was ist gerade hier? Wie geht es mir?“, sich daran erinnern, die Füße auf dem Boden zu spüren, die Luft zu atmen, den Himmel zu sehen, die andere Person zu sehen, zu hören und zu spüren, die eigene Anspannung wahrzunehmen, sich daran zu erinnern, dass das Herz schlägt und die Lungen atmen, sich erinnern, dass gerade Leben stattfindet, sich erinnern, in einer schwierigen Situation die Gedanken und Gefühle wahrzunehmen.
Negativitätstendenz und Neuroplastizität
Unser Gehirn ist darauf ausgerichtet, sich mit Problemen zu beschäftigen, zukünftige Schwierigkeiten zu vermeiden und vergangene Fehler zu analysieren. Diese Aufgabe erledigt es mit zuverlässiger Hingabe und Konzentration. Da aber der Satz gilt: „Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker.“, wird dieser enge Fokus der Problemlösung und der Konzentration auf die Schwierigkeit immer stärker und starrer werden, bis das Gehirn kaum noch erkennen kann, dass es hinter den Seitenmauern des Tunnelblicks noch so viel mehr zu entdecken gibt. Das ganze Leben wartet dort auf uns! Es geht nicht darum, das Problem zu verdrängen oder zu verharmlosen. Es geht darum zu sehen, dass es noch viel mehr gibt, was unsere Aufmerksamkeit wert ist. Erinnerung: wir sind mehr als dieses Problem. Das Leben ist größer als dieser Fehler. Diese Beziehung ist tiefer als der gegenwärtige Konflikt. Das können wir lernen und üben, mit Hilfe der Achtsamkeitspraxis.
Sati im Alltag
Sati, so lautet das Wort in der Pali-Sprache. Das ist die Sprache, in der die Lehren des Buddha aufgeschrieben wurden. Eine Übersetzung – neben dem allseits bekannten „Achtsamkeit“/“mindfulness“ – ist „sich erinnern“.
Eine der offensichtlichsten Fragen nach dem Ende eines Achtsamkeitskurses ist: „Wie bringe ich das in den Alltag?“ Hier sind ein paar Beispiele, um die „Erinnerung“ in den Alltag zu bringen:
- Aufwachen. Ehe wir aufstehen und dem Plan des Tages folgen und die üblichen Morgenrituale ausüben, können wir uns erinnern, dass wir einen Körper haben. Wie müde bin ich (noch)? Welche Dehnung würde mir gerade guttun? Wie fühlen sich mein Rücken und mein Bauch gerade an? Welche Gedanken über meine heutige Arbeit schießen mir in den Kopf? Dann zurückkommen zum Körper, zum Körpergefühl, vielleicht ein Glas Wasser trinken. Evtl. eine kurze Dankbarkeitsübung machen: ich bin aufgewacht, ich kann meine Augen öffnen, ich höre Geräusche, ich fühle meinen Körper. Nichts davon ist selbstverständlich!
- Essen. Wir können uns daran erinnern, das Essen und das Getränk zu sehen, zu fühlen, zu riechen, zu schmecken, die Temperatur wahrzunehmen. Wir können uns daran erinnern, dass diese Scheibe Brot nicht im Brotfach erschienen ist, sondern einen Entstehungs- und Lieferprozess hinter sich hat, an dem unzählige Menschen und Arbeitsschritte beteiligt waren. Hier können wir uns an Dankbarkeit, Wertschätzung und Verbundenheit erinnern. Und natürlich an die Wirkung der Nahrungsaufnahme auf den Körper.
- Arbeiten. Wenn wir uns an den Schreibtisch setzen oder ein Dossier zur Hand nehmen, einen Klienten begrüßen oder den Computer hochfahren, können wir uns daran erinnern, einen kurzen Check zu machen. Wie geht es mir? Wie bin ich hier? Brauche ich etwas? Wir können uns daran erinnern, den Körper zu spüren und drei bewusste Atemzüge zu nehmen.
- Natur. Wir können uns in jedem Moment, auch im Inneren eines Gebäudes, daran erinnern, dass wir alle auf einer Erde leben, dass über uns der Himmel ist, dass die Sonne immer da ist, auch wenn wir sie mal nicht sehen, dass die Bäume uns Sauerstoff liefern und die Bienen die Blüten bestäuben, dass die Natur und die Jahreszeiten einem unglaublich komplexen und wunderschönen Muster von leben, vergehen, neu entstehen, geboren werden, blühen, verwelken, etc. folgen, dass alles voneinander abhängig ist. Wir können uns daran erinnern, hinzusehen und uns verzaubern zu lassen von den Wundern der Natur und dass nichts uns gehört oder selbstverständlich ist. Sich daran erinnern, dass wir ein Teil des Ganzen sind und alles nur im Miteinander funktionieren kann.
- Menschen begegnen. Wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, seien es Fremde, Freunde, Familie oder auch uns unangenehme Bekanntschaften, können wir es mit H. Jackson Brown, Jr. halten: „Erinnere dich daran, dass jeder, den du triffst, vor etwas Angst hat, etwas liebt und etwas verloren hat.“ Wir können uns an die gemeinsame Menschlichkeit erinnern, an die Tatsache der Vergänglichkeit, der schwierigen Gedanken und der emotionalen Lasten oder Krankheiten, die wir nicht voneinander wissen. Wir können uns auch daran erinnern, nicht direkt alles persönlich zu nehmen, was der oder die andere sagt oder tut. Es ist es oft nämlich nicht, sondern ein Ausdruck des eigenen Schmerzes und der Belastung, die damit einhergeht. Und wir können uns auch an unsere eigenen Bedürfnisse erinnern und an die Erlaubnis, uns selbst gut zu schützen und für uns da zu sein, wenn es schwierig ist.
Es gibt unzählige Momente an einem Tag, und somit auch unzählige Gelegenheiten, sich zu erinnern: „Jetzt bin ich hier. Und was ist gerade hier?“
„Achtsamkeit ist der Weg ins Leben.“, heißt es im Dhammapada (2). Genau das ist es, die Erinnerung: ich lebe. Das ist mein Leben. Das gerade heißt es, Mensch zu sein. Die „ganze Katastrophe“ (Jon Kabat-Zinn), nicht mehr und nicht weniger. Erinnere Dich immer wieder an Dein Leben. Erinnere Dich immer wieder, Dein Leben zu leben. Jetzt. sati