Das Ende vom Juni naht, und ganz langsam lichtet sich mein Terminkalender. Die Sommerpause rückt näher, die im letzten Jahr komplett ausfiel, weil gerade im Sommer online-Angebote sehr dankbar aufgenommen wurden und ich gerne gab. Ich merke, dass es schwer fällt, die Gewohnheit von Vorbereiten, Planen, Inhalte erstellen, Skripte überarbeiten, usw. loszulassen und mich immer mal wieder auf den Gedanken einzulassen, dass ich jetzt gerade nichts dringendes zu tun habe und mir eigentlich eine Pause gönnen könnte. Das Nichts-Tun fällt schwer, meine guten Freunde innerer Antreiber und zuverlässiger Organisator trauen dem ganzen noch nicht, und der Körper ist rastlos.
Ich habe keine Zeit für eine „richtige“ Meditation
In den vergangen Wochen und – wenn ich ehrlich bin – Monaten habe ich wenig meditiert. Ja, ich habe mich jeden Morgen auf mein Kissen gesetzt und immer mal wieder auch während des Tages oder abends, aber es waren mal fünf Minuten hier, dann mal zehn Minuten da, vielleicht drei Atemzüge hier. Es fühlte sich immer wieder sehr unbefriedigend an, denn das Echo des vollen Alltags reichte immer zu sehr auch in diese stille Zeit hinein. Ich bräuchte wohl mindestens 15 Minuten am Stück, um wirklich zur Ruhe zu kommen. Aber: Ich habe kein Zeit dafür. Sagt mein Terminkalender, sagt mein Kopf, sagt mein Körper, der morgens dafür nicht eine halbe Stunde früher aufstehen möchte. Mein Herz sagt: Ich brauche es. Aber es wurde sehr lange überstimmt.
In meinen Kursen sage ich immer wieder: Alles darf sein. Das darf also auch sein. Das Nicht-Erfüllen eines mir sehr wichtigen Bedürfnisses darf sein, wenn ich gegenwärtig keine andere Möglichkeit sehe. Selbstfürsorge bedeutet nicht automatisch, mir möglichst viele Bedürfnisse zu erfüllen. Selbstfürsorge bedeutet vor allem, für mich da zu sein, besonders wenn ich immer mal wieder auch zu kurz komme. Konkret heißt das: keine Selbstkritik. Kein „sollte“ und „müsste“ und „das ist falsch!“. Keine Schuldzuweisung: „Ich könnte ja, wenn nicht …!“ Vielmehr: „Jetzt ist es so. Das Leben ist gerade enorm fordernd. Ich finde keine Zeit und habe keine Kraft für eine richtige Meditation. Was kann ich tun, um gut für mich zu sorgen?“ In meinem Fall ist die Hauptsache, mich jeden Tag zu Beginn kurz zu dehnen und dann auf mein Kissen zu setzen. Ob das dann insgesamt fünf Minuten sind oder tatsächlich zehn, das ist immer unterschiedlich.
Bei mir selbst ankommen – bevor ich nach außen gehe
Das wichtigste ist für mich, dass ich mir morgens die Chance gebe, bei mir selbst anzukommen, bevor ich der Welt und den Menschen in ihr begegne. Der Tag und meine Begegnungen verlaufen anders, wenn ich zuerst bei mir war. Es spielt dabei keine Rolle, wie lange oder wie intensiv oder wie tief ich nach innen gelauscht habe. Wäre länger besser? Sicher! Findet in drei Minuten eine Entwicklung statt? Keine Ahnung. Aber darum geht es mir schon lange nicht mehr. Es geht nicht darum, etwas zu erlangen oder zu erreichen oder einem Ideal nachzujagen. Es geht darum, für sich da zu sein, ganz besonders in den Zeiten, in denen das Außen so an einem zerrt. Teil der Praxis ist es dann auch festzustellen, dass ich nicht so einfach zur Ruhe komme. Feststellen, dass meine Gedanken schon zwei Stunden in der Zukunft sind oder noch beim Streit von gestern. Keine „Stille im Kopf“ und einfach nur atmen. Und auch das darf sein. Natürlich ist es wichtig, immer wieder zu sehen, wo Veränderungen möglich sind und die anfallenden oder eingeplanten Pausen auch wirklich als solche zu nutzen. Auch das ist Selbstfürsorge.
“Aber dann lohnt es sich doch gar nicht!“
Sobald sich bewertende Gedanken einschleichen wie „Das lohnt sich doch gar nicht.“ oder „Ganz oder gar nicht.“ sind wir ergebnisorientiert und nicht offen für das, was jetzt ist. Das Leben ist das Leben, und wir haben limitierte Möglichkeiten, darauf einzuwirken. Das Fußball-Training fängt um 17 Uhr an, und wenn ich bis 16 Uhr arbeiten muss, dann bleibt eben kein Freiraum mehr übrig zwischen Trikot anziehen und zum Training fahren. Wenn ich erst heute Abend einkaufen gehe, weil ich jetzt lieber etwas anderes machen würde, sind vielleicht kein frischer Salat oder genug Brötchen mehr da. Der Alltag ist eben kein Wunschkonzert, und es gibt Zeitdruck und Erwartungen und Pflichten. Aber wie gehe ich damit um? Wie nutze ich die fünf Minuten Pause? Muss dieser Artikel hier wirklich jetzt fertig geschrieben werden oder geht es auch noch später oder morgen und jetzt sammle ich nur Stichpunkte? Wenn ich jetzt kurz innehalte: könnte der Körper nicht eine kurze Dehnung und frische Luft vertragen? Wie begegne ich meinen Kindern später, wenn ich mir nach dem Mittagessen einen 3-Minuten-Atemraum erlaube?
Das Gehirn gewöhnt sich an das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten
Bei diesem ganzen Sein mit dem was ist, ist es wichtig sich zu erinnern, dass wir Menschen Gewohnheitstiere sind: Mein Antreiber und der Organisator und die effiziente Managerin haben es sich schon sehr gemütlich gemacht in meinem inneren Wohnzimmer und sie haben ihre Schreibtische vollgestellt mit Akten und Papieren. Nur so war es möglich, die vergangenen Wochen das zu tun, was ich tun konnte (und wollte) und jetzt mit meiner Arbeit zufrieden und im Reinen zu sein. Es wird nicht einfach, sie davon zu überzeugen, dass sie bald kürzer treten können und nicht schon um 8 Uhr morgens und bis spät abends arbeiten müssen. Aber das kriegen wir schon hin. Unsere gemeinsame Geschichte geht weit zurück, und sie wissen, dass ich sie nie rauswerfen würde. Ich habe gelernt, ihren Einsatz sehr wertzuschätzen. Sie können eine kleine Auszeit aber auch sehr gut gebrauchen.
Und nun setze ich mich für fünf Minuten in Stille und tue nichts, bevor ich mit dem Skript für den nächsten Kurs beginne. Fünf Minuten sind alles, was ich gerade habe, und das darf so sein.
"Die Achtsamkeitspraxis verändert nicht unser Leben. Aber sie verändert die Fähigkeit unseres Herzens, es so anzunehmen, wie es ist." - Doris Kirch