Hilflos … und jetzt?

June 2022
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Eine der schwierigsten Erfahrungen der letzten Jahre und ganz besonders Monate waren für mich die Momente der Hilflosigkeit. Ohnmacht, Überwältigung, und ein schier unerträglicher innerer Dialog von „Ich fühle mich so klein und machtlos. Wohin steuern wir nur?!“ Ja, das sind (nur) Gedanken, ja, das ist die Negativitätstendenz am Werk und auch diese Gedanken gehen vorbei und es gibt immer wieder Dankbarkeit, Stärke und Vertrauen.

Die Welt ist aus den Fugen

Dennoch scheint es manchmal, als sei die Welt auf eine Bahn geraten, deren Horizont bedrohlich düster aussieht. Die Corona-Pandemie hat alles verändert, was bis dato relativ stabil schien. Dann begann der Ukraine-Krieg und alles ist wieder anders und verändert sich ständig weiter. Die Klimakrise, eine „Katastrophe ohne Ereignis“ (Eva Horn), wälzt sich mir immer wieder gedanklich in den Vordergrund, und mit ihr Symptome der sogenannten „Öko-Angst“. Die Achtsamkeitspraxis gibt mir Halt und Erdung, immer wieder, und doch gibt es regelmäßig Phasen von innerer Rastlosigkeit und eben Ohnmachtsgefühle.

Schwieriger wird es aber, wenn ich meine Kinder ansehe und mir bewusst mache, was für eine Kindheit sie gerade erleben. Da ist all das oben genannte, das sie – ihrem jeweiligen Alter angemessen – mehr oder weniger klar mitbekommen. Und natürlich gibt es fast täglich in ihrem direkten Umfeld verschiedene Arten von (Cyber) Mobbing, zunehmende Aggressivität in der Schule, eine Faust auf die Nase in der Umkleidekabine, weil man einem blöden Spruch widersprochen hat, und die allseits bekannten Hänseleien, wenn man eben nicht mit dem Strom schwimmt und sich an der Jagd nach der gängigen Markenkleidung, dem neuesten Handy oder dem nächsten Schönheitsideal beteiligt. Ist es nicht schon schwer genug, einfach nur ein Kind zu sein und sich in einer sich rasant verändernden Welt zurechtfinden zu müssen?

Verlorene Rückzugsorte

Früher, als ich selbst Kind war, gab es noch Rückzugsorte. Es gab den Garten und die Natur, es gab die Zeit nach der Schule, es gab das eigene Zimmer, es gab Bücher und Musik und ein Tagebuch und die beste Freundin gegenüber. Heute gibt es mit dem Smartphone in der Hand und der Messenger-App auf dem iPad keine Pause mehr: es spielt keine Rolle mehr, ob man sich in der Schule oder zu Hause befindet, auf dem Weg zur Freundin oder beim Mittagessen. Heute sind die Kinder (und generell die Menschen) überall erreich- und verwundbar, denn die Geräte und damit die Bewertungen sind immer und überall. Sie sind es übrigens auch, wenn man sich ausklinkt oder – wie es „total strenge“ Eltern wie wir tun – den Kindern nicht unbegrenzten Medien-Zugang ermöglicht, sondern versucht, sie immer wieder mit Natur, mit echten Menschen und mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Aber alleine die Tatsache, dass man eben nicht non-stop „on“ ist, ist oft ein Grund für ausgeschlossen-werden, für „out“ sein und aufgezogen werden. Ein Teufelskreis.

Ich habe schon einige Jahre und Höhen und Tiefen erlebt, und ich habe meine Rückzugsorte in der Welt und bei anderen Menschen gefunden und mir dann auch innerlich bei und mit mir selbst geschaffen. Das können Kindern generell nur bedingt, denn ihre inneren Systeme sind noch so ungeschliffen. Jugendliche müssen mitschwingen mit ihren gleichaltrigen Mitschülern, sie müssen sich finden, abgrenzen und über sich hinauswachsen. Das geht aber nur, wenn das Gehirn so genutzt wird, wie es gedacht ist: (1) mit dem alten Teil, der uns beschützt und uns kämpfen lässt, (2) mit dem neueren Teil, der fühlt und erfährt und lernt (3) und mit dem menschlichen Teil, der versteht und einordnet und seine Schlüsse daraus zieht. In der gegenwärtigen schwierigen Zeit aber ist das Gehirn hauptsächlich mit Überleben beschäftigt. Sobald wir Menschen uns bedroht fühlen, arbeiten wir nur noch mit dem ganz primitiven und alten Teil des Gehirns: wir kennen nur noch Kampf, Flucht oder Erstarrung.

Das Gehirn braucht Sicherheit, um wachsen zu können

Und hier fängt die Ohnmacht an: Wenn die Kinder vor lauter Stress, Leistung bringen müssen, Angst vor schlagenden Mitschülern, non-stop in virtueller Interaktion und Selbst-Präsentation sein, Anspannung und (emotionale und physische) Wunden lecken gar nicht dazu kommen, ihre täglichen Erfahrungen einzuordnen und sacken zu lassen, einfach mal wirklich auszuatmen, wie sollen sie dann authentisches Selbst-Bewusstsein, Emotionenregulierung und Perspektive entwickeln? Der Teil des Gehirns, der genau dafür zuständig ist, bekommt nie seinen Rückzugsort, etwas Entspannung und ein inneres Gefühl von Sicherheit, um sich überhaupt auszubilden. Kein Wunder, dass die schulischen Leistungen vieler Kinder und das allgemeine Wohlbefinden nicht hoffnungsvoll stimmen. Die Begriffe Respekt und ein Bewusstsein von einem Miteinander im Klassensaal werden von sehr vielen Lehrpersonen in meinen Kursen schmerzlich vermisst. Dies aber sind Dinge, die Kinder von uns Erwachsenen lernen müssen. Aber können wir das denn selbst noch zur Genüge? Sind wir wirklich noch da, mit Hirn und Herz, und schauen hin, schauen einander in die Augen, „schauen auf die wunde Stelle“, wie Rumi sagt?

Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die Welt scheint so unübersichtlich, unachtsam und laut geworden zu sein. Uns allen stehen große Aufgaben bevor, und oft fühle ich mich sehr alleine. Was kann ich schon tun? Wie kann ich meine Kinder beschützen? Und dann die Erkenntnis: ich kann es nicht. Ich habe keine Ahnung, wie die Welt in 10, 15 oder 20 Jahren aussehen wird. Ich weiß gar nicht, wovor ich sie beschützen sollte.

Was kann ich tun?

Ich kann nur immer wieder das tun, was wirklich in meiner Macht steht: innehalten, hinsehen, andere Menschen sehen, mich verankern, mich interessieren, mich selbst beruhigen und aus den düsteren Gedanken holen. Mit allen Teilen des Gehirns arbeiten, mich mit meinen Werten verbinden und „die Veränderung sein, die ich in der Welt sehen möchte“ (Ghandi). Was ich dazu brauche, ist Vertrauen. Vertrauen darin, dass es genug ist. Vertrauen darin, dass mein eigener Beitrag zum Energiesparen, Plastik vermeiden, Konsumverhalten ändern, Menschlichkeit anbieten, ein offenes Ohr schenken, die Tür zur Achtsamkeitspraxis für andere öffnen, meine Kinder im Arm halten, wenn sie verletzt wurden, klare Grenzen ziehen und den eigenen Körper stärken, dass all das genug ist.

Die Praxis, dass Innehalten, das eigene Heilen trägt Früchte. Ich merke es in Begegnungen, in den Signalen des Körpers, in der Fähigkeit, für leidende andere da sein zu können. Das ist alles, was ich tun kann, und das Vertrauen wächst. Werden diese Mikroschritte von einzelnen reichen, um meinen Kindern eine bessere Zukunft zu schenken? Ich weiß es nicht, aber jeder kleine Moment von gelebter und erlebter Menschlichkeit ist es wert, an der Praxis dranzubleiben. Bleibt auch ihr dran, wie auch immer es gegenwärtig für euch aussehen mag. Wir alle brauchen es, dass ein Licht nach dem anderen leuchtet und immer kräftiger wird.

"Gestern ist vorbei. Morgen kommt niemals. Heute ist hier. Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, sitze still und höre zu. Du könntest etwas hören." - Carl Sandburg

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