Was wäre, wenn 2020 kein «verlorenes Jahr» wäre?
Was wäre, wenn dieses fast vergangene Jahr ungemein lehrreich und wertvoll gewesen wäre?
Wenn das Durchleben und Erfahren von Emotionen deutlicher und intensiver als je vor Augen führte, was Menschsein wirklich bedeutet und dass alles zum Leben gehört: das Schöne, das Neutrale und das Schwierige oder Schmerzhafte.
Wenn klar wurde, dass alles Arbeiten, sich Bemühen, alle Vorsorge und Geld nicht verhindern können, dass das Leben immer wieder beschwerlich oder gar bedrohlich ist und dass «mehr, höher, weiter, schneller» also nicht die Formel für ein einfaches Leben ist.
Wenn es so vieles neu zu entdecken und wertzuschätzen gab, was bislang zur Routine gehörte und als selbstverständlich angesehen wurde: sich umarmen, Restaurant-Besuche, Kino und Theater, verreisen, der ungezwungene Umgang mit anderen Menschen, die Natur, und ja, die Natürlichkeit des Atmens.
Wenn deutlich wurde, wie unmöglich es ist, nicht zu urteilen: über Politik, über Experten und ihre Meinungen, über Maßnahmen, über Wahlen, über die Umwelt, über leere/volle Fußballstadien oder die Impf-Reihenfolge, und natürlich über das Verhalten «der anderen». Und wie sehr das Urteilen die eigene Stimmung und das Handeln beeinflusst.
Wenn sich täglich zeigte, dass Akzeptanz – ja, auch dessen, was nicht gewollt ist – die einzige Basis ist, um mit klarem Kopf zu entscheiden: Wie gehe ich damit um? Was ist jetzt hilfreich, sinnvoll und wichtig?
Wenn schmerzlich deutlich wurde, was bisher vielleicht nur ein Kalenderspruch war: das Leben ist nicht planbar und nicht kontrollierbar. Das Leben ist, wie es ist. Pläne und Ziele sind ganz wunderbar und wichtig, aber das Ganze funktioniert nur, wenn diese immer wieder der Realität angepasst werden.
Wenn sich Einsichten ergaben über die Macht der eigenen Gedanken und über die Möglichkeit, selbst am Steuer zu sitzen: Ist das, was ich gerade denke, hilfreich? Ist es an der Zeit, die Sinnestore mal wieder für eine Zeit zu schließen und nicht jede Schlagzeile zu lesen, alles zu sehen und jeden zu hören?
Wenn die vergangenen Monate ein Lehrstück waren darin, dass alles, wirklich alles, vergänglich und veränderlich ist, ungeachtet dessen, wie «normal» es zuvor schien. Offene Grenzen, verreisen, umarmen, fester Arbeits- und Schulrhythmus, freie Zugänglichkeit von Restaurants und Geschäften, klare Arbeitsteilung und Routinen.
Wenn es in all dem einen großen Reichtum zu entdecken gab: die Fülle eines dankbaren Herzens. Dankbarkeit für Menschen und ihren Dienst für die anderen. Dankbarkeit für Rettungskräfte und Polizei, Krankenhauspersonal und Putzdienste, Schule und Erziehungsinstitutionen, Post- und Supermarktangestellte, geschulte und unfreiwillige Sterbebegleiter, Transport und Logistik von Waren, Medikamenten und Lebensmitteln, Müllabfuhr und Verwaltungsangestellte, und für die unzähligen mehr, die einfach ihre Arbeit machen, jeden Tag.
Wenn aus dieser Fülle der Dankbarkeit Großzügigkeit entstehen konnte und immer wieder gegeben wurde, seien es Zeit, ein offenes Ohr, Waren, Wissen, Interesse oder Mitgefühl.
Wenn mit jedem Tag deutlicher wurde, was wirklich wichtig ist, um sich sicher, gesehen und verbunden zu fühlen – und worauf man eigentlich verzichten kann, für eine Zeit lang oder sogar für immer.
Wenn da Vertrauen wachsen konnte in das, was immer da ist, ungeachtet des äußeren Chaos und der physischen Distanz: Verbundenheit. Das, was zusammenhält, ist immer da, wenn wir uns dafür öffnen. Natur, Tiere, Menschen, Interesse, lernen, verkörpern, miteinander und aneinander wachsen, helfen, einfach da sein und sich berühren lassen. Verbundenheit gibt es auch über einen Verlust hinweg, denn die Liebe und die Erinnerung bleiben, auch wenn ein Mensch oder ein Tier weg sind.
Was wäre, wenn die vergangenen Monate dabei geholfen hätten, wacher zu werden für das Abenteuer «Mensch»?
Was wäre, wenn 2020 ganz viele Wände eingerissen hätte, die Routinen, Denkmuster und Weltansichten über Jahrzehnte hinweg fein säuberlich aufgetürmt hatten?
Was wäre, wenn hinter diesen bröckelnden Wänden eine ganz neue Welt zu entdecken wäre, die nur darauf wartet, er-lebt zu werden?
2021 wird nicht einfach(er) werden, ob mit oder ohne Impfung, mit oder ohne Verlust, mit oder ohne Arbeit. Denn die Wahrheit ist: das Leben ist und war nie einfach. Es ist, wie es ist. Menschsein bedeutet, das Leben zu leben, so wie es sich gerade entfaltet – und je wacher wir in unserem Leben sind, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben wir.
Auf ein neues Jahr voller lebendiger Momente!