Es ist Ende November, und meine Kinder warten auf den Nikolaus-Tag. Als Kind um diese Zeit wartete ich auf den ersten Schnee. Wir alle warten ständig darauf, dass etwas endet: der Schnupfen, das Bauchweh, die Arbeitswoche, das Regenwetter, die Meditation. Oder wir warten darauf, dass etwas beginnt: die Weihnachtsferien, der langersehnte Film, der Feierabend, das Abendessen.
Dieses Leben in der Gegenwart, das ist manchmal unheimlich schwer. Sein mit dem, was ist. Uns kommt immer wieder ein System in die Quere, das Paul Gilbert das Motivations- oder Antriebssystem nennt. Das ist gekennzeichnet durch eine innere Unruhe, eine Rastlosigkeit, ein Drängen und, ja, warten. Warten auf etwas, das nicht da ist. Wir sind unzufrieden mit dem, was gerade ist und warten auf die Veränderung. Das Leben und Erleben jetzt gerade ist nicht genug, nicht gut genug. Dieses Streben auf eine Zukunft, die (vermeintlich) besser ist, bringt uns weg von dem, was direkt vor unserer Nase ist.
Der Gegenwart entfliehen zu wollen ist zutiefst menschlich
Dieses Streben ist zutiefst menschlich und natürlich. Diese Tendenz, sich in ein Leben in der Zukunft zu wünschen, kennt wohl jeder. Es gibt verschiedene Arten, um dem Leben hier und jetzt zu entfliehen. Es gibt Ablenkung, es gibt Verdrängung und Zuschütten mit Aktivität, und es gibt eben das Warten und das Träumen in die Zukunft. Alles das macht nicht glücklich, denn so sehr wir uns bemühen, das Leben findet nun mal hier und jetzt statt. Oft bietet sich die Ablenkung an, es geht hier um die schnelle Lösung: das Hier und Jetzt möchte ich nicht, also suche ich mir etwas Schönes: Snack, Fernsehen, Spaß. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, manchmal ist keine Kraft übrig für irgend etwas anderes – jedoch wird das schnell zum Automatismus und dann ist es eine eindeutige Vermeidungsstrategie, die wiederum langfristig nicht hilfreich ist.
Warten hat eine besondere Qualität
Warten jedoch hat oft eine andere Qualität. Es setzt voraus, dass wir uns sehr bewusst sind: so, wie es jetzt ist, gefällt es mir nicht. Im Gegensatz zur Ablenkung wird der gegenwärtige offensichtlich ungenügende Zustand sehr deutlich. Hier ist eine eindeutige Wertung impliziert, gepaart mit der Hoffnung: jetzt bin ich es nicht, aber in der Zukunft werde ich glücklich(er) sein. Wenn nur das Kopfweh vorbei ist, dann… Wenn Nikolaus-Tag da ist, dann… Wenn der Urlaub endlich beginnt, dann… Schwierig wird es oft, weil die Hoffnung sich ganz konkret als Bild im Geist festsetzt: so wird oder muss es sein, in der Zukunft, wenn der Moment endlich da ist. Als Mutter kenne ich diese Momente nur zu gut, diese immer größer werdende Spannung. Dann ist es endlich soweit, und der Nikolaus hat doch nicht wie erhofft und erwartet sieben Lego-Ninjago-Sets gebracht, sondern nur eines. Schlagartig setzt sich die Negativitätstendenz ans Steuer und Enttäuschung macht sich breit. Das eine schöne Set, die coolen Pullover, das Überraschungsgeschenk, die Stifte, alles ist nicht gut genug, denn es entspricht nicht dem Bild im Kopf. Über Wochen konnte dieses Bild reifen, an Farbe gewinnen, Form entwickeln und sich als Maßstab für Freude oder Enttäuschung festsetzen.
Wenn wir ehrlich sind, ist unser Erwachsenenhirn oft ganz ähnlich wie das Kinderhirn. Obwohl wir es eigentlich besser wissen, geht unsere Phantasie auch auf Reisen, wenn wir uns in die Zukunft träumen. Wie ist das mit dem idealen Wochenende nach einer harten Arbeitswoche? Oder mit dem Wetter am Urlaubsort? Wir alle machen Pläne, warten auf bestimmte Ereignisse oder träumen uns weg aus der Gegenwart. Das ist menschlich. Und das ist in Ordnung, keiner kann ständig im Hier und Jetzt leben. Wir können jedoch dazu beitragen, ein kleines bisschen zufriedener und ruhiger zu werden angesichts des Lebens, das jetzt da ist. Dieses „warten/hoffen auf …“ taucht immer wieder auf, eben weil das Antriebssystem ein Teil des menschlichen Gehirns ist. Das zu bemerken ist der Schlüssel.
Innehalten und nach innen lauschen
In diesem Fall können wir innehalten und uns konkrete Fragen stellen, die die innere Unruhe besänftigen können. Hier sind ein paar Vorschläge:
- Wo bin ich gerade? Und wie geht es mir gerade jetzt?
- Was an der gegenwärtigen Situation gefällt mir nicht? Was oder wer ist nicht gut genug?
- Kann ich trotz allem ein Gefühl von Dankbarkeit und Wertschätzung entwickeln für zumindest einen Aspekt der Gegenwart?
- Was an der zukünftigen Situation, auf die ich warte, gefällt mir? Wie ist diese besser als das, was gerade ist?
Und essenziell ist folgendes:
- Wie stelle ich mir das, worauf ich warte, vor? Wie konkret oder fest ist die Erwartung?
Wenn es möglich ist, die gegenwärtigen Gefühle wie Freude, Vorfreude, Ungeduld oder Neugierde in den Fokus zu nehmen, dann können wir uns lösen von einem bestimmten Ergebnis oder einem festen Bild, wie etwas zu sein hat. Dann können wir tatsächlich mit dem sein, was ist, und offen bleiben für alles, was unserer Erwartung nicht entspricht. Dann sind wir in der Lage, die Aufmerksamkeit nicht auf das zu richten, was WIEDER nicht gut genug ist – weil es nicht unserer Erwartung entspricht – sondern können das sehen und wertschätzen, was da ist.
„Wie viele Tage sind es noch bis Nikolaus??!!“ – ein konkretes Beispiel
P.S. Als kleine Ergänzung versuche ich, in das Gehirn meines Sohnes einzudringen und zu verstehen, wie diese Schritte aussehen könnten:
- Wo bin ich gerade? Und wie geht es mir gerade jetzt?
Abends im Bett. Rastlos, viele Gedanken. Ich will/kann nicht schlafen. Ungeduld. Hoffnung und etwas Angst: Bekomme ich, was ich mir gewünscht habe?
- Was an der gegenwärtigen Situation gefällt mir nicht? Was oder wer ist nicht gut genug?
Das, was ich habe, ist mir nicht genug. Ich möchte unbedingt noch diese eine Figur haben, die fehlt mir noch in meiner Sammlung!
- Kann ich trotz allem ein Gefühl von Dankbarkeit und Wertschätzung entwickeln für einen Aspekt der Gegenwart?
Um in dieser Situation Dankbarkeit und Wertschätzung selbst zu entwickeln bin ich noch zu klein, mein Gehirn ist dafür noch nicht genug ausgebildet. Dafür bräuchte ich Hinweise von meiner Mutter. Aber abends habe ich dafür eigentlich eh keinen Nerv mehr. Damit muss sie jetzt einfach klarkommen!
- Was an der zukünftigen Situation, auf die ich warte, gefällt mir? Wie ist diese besser als das, was gerade ist?
Ich freue mich aufs Aufbauen! Und dann möchte ich mit allen Figuren spielen und eigene Geschichten erfinden! Ich finde, ich habe noch zu wenige Figuren.
- Wie stelle ich mir das, worauf ich warte, vor? Wie konkret oder fest ist die Erwartung?
Ich hoffe ganz fest, dass ich alle Lego-Sets, die auf der Wunschliste standen, auch bekomme! Eigentlich weiß ich, dass das viel zu viele sind. Aber trotzdem kann ich nicht aufhören, mir vorzustellen, dass ich tatsächlich alle bekommen werde! Ich werde alles von meiner Wunschliste kriegen, ganz bestimmt.
Kinder haben oft ganz konkrete Vorstellungen und eine blühende Phantasie. Insofern ist es dann die Aufgabe der Eltern, die Enttäuschung nicht persönlich zu nehmen. Die Enttäuschung, die trotz aller Bemühungen und Hinweise („Ich glaube nicht, dass der Nikolaus alles bringen kann.“) da sein wird, ist lediglich Ausdruck dieser Diskrepanz zwischen dem Bild im Kopf und der Realität. Tatsächlich sind solche Momente sehr hilfreich, um immer wieder selbst zu reflektieren: Wie sehr hänge ich fest an einem Bild, wie die Zukunft aussehen soll? Kann ich mich ein kleines bisschen davon lösen und zurückkommen zu dem, was jetzt hier ist: die Gefühle, der Körper, Geräusche, das Hier und Jetzt. Sein mit dem, was ist.