Das menschliche Gehirn, der Körper, die Fähigkeiten, die Herzensbildung – all das ist nie „fertig“. Es ist nie vollständig, nie abgeschlossen. Wir verändern und wachsen ständig. Das kann man zum eigenen Wohlbefinden nutzen oder – wenn wir unseren Gedanken unreflektiert glauben – zum eigenen Unglück.
Nie gut genug
Fangen wir an mit den negativen Auswirkungen. Wir alle wollen gut sein in dem, was wir tun. Wir streben nach Anerkennung, nach Erfolg oder einfach nur nach dem Gefühl, dass wir gebraucht werden und gut genug sind. Dieser sehr menschliche Antrieb geht zurück auf ein ganz fundamentales Verlangen: Teil der Gruppe zu sein. Früher bedeutete der Ausschluss aus dem Stamm oder aus der Gruppe der sichere Tod. Wir sind soziale Wesen durch und durch und möchten unseren Beitrag leisten und dadurch angenommen werden. So weit, so gut. Die Art der Erziehung, der gesellschaftlichen Umgebung und Werte, die inneren und äußeren Antriebe jedoch bewirken, dass wir oft an uns zweifeln. Wir denken, wir müssten etwas bzw. noch mehr leisten, um anerkannt zu werden. Einfach nur wir zu sein, das genügt nicht. Wir müssen der oder die Beste sein, herausstechen, etwas Besonderes leisten oder ein*e Expert*in auf unserem Gebiet sein. Das wiederum bedingt, dass wir nie gut genug sind. Es gibt einfach zu viel zu lernen, zu viele Bücher zu lesen, zu viele TEDtalks zu sehen und auf das eigene Leben anzuwenden, zu viele Fachstudien zu kennen, zu viele Argumente zu durchleuchten, zu viele neue Impulse auszuprobieren. Viele Menschen, besonders die durch die Sozialen Medien beeinflusste Generation, streben danach, reich und berühmt zu werden.
„Ich bin der Meinung, dass jeder reich und berühmt werden sollte und alles tun, wovon man träumt, damit man erkennt, dass das nicht die Antwort ist.“ Jim Carrey
Bei mir äußerte sich das früher in einem exzessivem Kaufen von immer neuen Büchern von anerkannten Achtsamkeitslehrer*innen, um mir immer mehr Wissen anzueignen. Das, was ich kannte, war in meinen Augen nie gut genug. Das Problem: man ist niemals fertig. Es gibt nämlich immer etwas Neues zu lernen und noch weiter zu wachsen, noch mehr Anerkennung zu erlangen. Die Folge: das Wissen wächst, die Zweifel bleiben. Und letztlich füllt es nicht das Herz und es wird nie genug sein.
Immer gut genug
Wenn wir auf oft schmerzliche Weise gelernt haben, dass dieser innere Drang nach „mehr“ nie gestillt werden kann, dann können wir uns die Frage stellen: Wer bin ich? Was kann ich? Wo zieht es mich hin? Dann können wir die innere Sehnsucht als Nordstern benutzen und weiterhin der Neugierde folgen, aber nicht weil wir meinen, nicht gut genug zu sein, sondern weil es uns einfach interessiert, weiterzugehen und besser zu werden auf einem bestimmten Gebiet. Dann können wir uns immer wieder daran erinnern, dass wir eigentlich keinem etwas beweisen müssen außer uns selbst – und wenn andere etwas von uns erwarten (einen bestimmten Status, eine bestimme Kleidergröße, ein bestimmtes Gehalt, eine bestimmte Leistung), dann ist es zunächst einmal deren Idealvorstellung entsprungen und hat nicht direkt etwas mit uns zu tun.
Kein Mensch, keine Leistung, kein erreichtes Ziel wird uns für immer zufriedenstellen und wahrlich erfüllen, das kann nur von innen kommen. Während des Schreibens dieser Zeilen finden gerade die Olympischen Spiele in Paris statt und hier ist ein einziges Auf und Ab der Emotionen, von Jubel und Tränen, von Stolz und Enttäuschung zu beobachten. So ist das Leben, mal gewinnt man und mal verliert man. Diese Fixierung auf einen Titel aber verkennt vollkommen die jahrelange harte Arbeit und das unermüdliche Wachsen, auch wenn es am Schluss nicht gereicht hat. Es ist wiederum allzu menschlich, dass sich die Emotionen Bahn brechen, wenn dann das Ergebnis feststeht, wie auch immer das aussieht. Grundsätzlich aber ist dies nur ein kleiner Teil des menschlichen Lebens, das aus viel mehr bestehen sollte als aus einer Medaille oder 5 Minuten Ruhm oder als GOAT (greatest of all times) bezeichnet zu werden – oder eben als die Person, die „nur“ vierte geworden ist.
Leben ist mehr als Erfolg und Ziele
Egal, was wir leisten und ob unsere eigene Existenz jemals einem Weltpublikum bekannt werden sollte oder nicht, wir sind kein Titel oder kein Name. Wir sind ein lebendiges Wesen in einem Prozess, der bis zum letzten Atemzug ständiger Veränderung unterworfen ist. Einen Teil dieser Veränderung können wir beeinflussen und steuern, einen viel größeren Teil nicht, denn der ist abhängig von so vielen äußeren und inneren Faktoren über Herkunft, Lebensumstände und Biologie bis zu inneren Prozesse und Herzensbildung und nicht zuletzt Zufall. Je bewusster wir da sind für den Teil, den wir konkret gestalten können (= unsere Haltung und Handlung im gegenwärtigen Moment, inklusive unsere kurz- und langfristigen Entscheidungen), desto zufriedener werden wir leben. Selbstwirksamkeit ist ein wichtiger Faktor eines zufriedenen Lebens.
Sich erinnern
Wenn wir diesen inneren Weg weitergehen, dann werden wir irgendwann erkennen, dass wir gut genug sind, so wie wir sind. So wie ein Baby nichts leisten muss, um geliebt und umsorgt zu werden, so genügt es auch für uns, einfach nur da zu sein. Zugegeben, diese Haltung im Alltag zu erkennen und zu leben ist sehr schwer und manchmal unmöglich zu erreichen, besonders in einer Leistungsgesellschaft. Wir können uns aber immer wieder daran erinnern, wenn der Impuls kommt, das wir x,y, oder z noch machen oder haben müssten, damit wir besser werden oder beliebter sind, dann können wir uns erinnern: „Ich muss mein Leben leben, denn wenn ich es nicht tue, dann macht es niemand. Ich bin grundsätzlich in Ordnung. Wenn es etwas zu verändern gibt oder ich mich weiterentwickeln möchte, dann weil ich es will, nicht weil jemand anderes mir zu verstehen gibt, dass ich nicht hübsch/erfolgreich/cool/fähig/… genug bin. Und nur weil andere ständig neue Bücher schreiben, irrsinnig kreativ sind oder unglaublich erfolgreich sind (oder scheinen), bedeutet das nicht, dass ich dem folgen muss. Was stimmt für mich? Wo zieht es mich hin?“