Der Anfänger- oder Forschergeist ist eine der grundlegenden Qualitäten der Achtsamkeit. Es bedeutet, dass wir an jeden Moment mit Neugierde herangehen, mit frischen Augen und mit offenem Herzen – so gut es eben jetzt gerade geht. Es bedeutet, dass wir nicht erwarten, wie etwas oder jemand sich verhalten wird, wie es wohl kommen mag, was die Erfahrung zeigt oder wofür wir uns wappnen müssen. So weit, so gut. Und so unrealistisch, jedenfalls in meiner eigenen Erfahrung.
Automatisch erwarten, planen, antizipieren
Natürlich planen wir aufgrund von Erfahrungen. Selbstverständlich ruft mein Gehirn genervt „Schon wieder?!“, wenn die Kinder sich mal wieder streiten, weil ihnen abends langweilig ist. Der Weg zur Arbeit ist uns wohlbekannt und wird daher nicht bewusst wahrgenommen „wie ein Forscher“, der unbekanntes Terrain entdeckt. Und das Hotel oder die Ferienregion sind so beliebt, eben weil wir wissen, dass die Berge gut tun, dass das Frühstücksbuffet hier besonders appetitanregend ist oder dass sich immer schnell neue Freunde für die Kinder finden und die Erwachsenen daher tatsächlich auch etwas entspannen können.
Was mir an der Achtsamkeitspraxis besonders gut gefällt, das ist der Aspekt der Mühelosigkeit. Es geht nicht darum, etwas zu erreichen (im Gegenteil) oder besser zu werden oder „immer ganz bewusst“ zu leben. Nein, alles ist eine Einladung, eine Idee zum Ausprobieren. Ein Geschenk, das wir nur auspacken müssen und schauen, ob es Platz hat in unserem Leben. Es geht eben genau darum, mal nichts zu tun und nichts zu erwarten. Einmal mal schauen, was das Leben gerade bringt. Sich überraschen lassen. Ja, planen und organisieren gehört dazu, und wir erwarten auch bestimmte Effekte unserer Anstrengung. Aber die Einladung ist es, immer mal wieder loszulassen und zu schauen: „Was ist denn jetzt gerade los? Und was macht das mit mir? Wie geht es mir damit?“ Echtes Interesse, also tiefe Neugierde, und sich zuwenden, mehr braucht es nicht.
Anderen Menschen mit Offenheit begegnen
Besonders deutlich wird das im Umgang mit anderen Menschen. Wer Kinder hat, der weiß, dass viele Aktionen und Reaktionen vorhersehbar sind – schließlich sind wir die selbsternannten Experten unserer Kinder – aber es ist ungemein wichtig, sich immer wieder überraschen zu lassen und eine Entwicklung nicht zu verpassen. Leben ist Veränderung. Erwachsene sind oft sehr viel berechenbarer, weil sie schon mehr Jahre an Mustern, Handlungstendenzen und Routinen auf dem Buckel haben. Und doch engen wir uns und sie stark ein, wenn wir nicht offen sind für Veränderungen und für Überraschungen, angenehm oder unangenehm. Und je weniger wir unsere Kinder in Schubladen einordnen à la „so macht man das“ und „so ist er/sie einfach“, sondern offen sind und auch mal erlauben, nicht zu wissen, wie sie jenes oder dieses bewältigen werden, desto freier können sie sich entfalten und ihren eigenen Weg finden.
Ein anderes Beispiels ist die Sommerzeit. Es ist ziemlich vorhersehbar, dass es vielerorts Kirmes gibt mit den immergleichen Verkaufsbuden. Es gibt Sommerschlussverkauf in den Geschäften, Grillutensilien und -lebensmittel im Supermarkt und ruhende Baustellen. Den Kindern ist schnell langweilig, es wird viel Fernsehen geschaut und zu viel Eis gegessen, lange draußen gesessen und Urlaubsgrüße verschickt. In diesem Jahr ist manches anders, die Ereignisse in der Welt hinterlassen Spuren in der für gewöhnlich sommerlichen Leichtigkeit. All das lädt ein, immer wieder innezuhalten und sich umzusehen und alles ein kleines bisschen mehr wertzuschätzen. Woher kommt das Essen auf dem Tisch? Wie geht es den Blumen im Garten? Welcher Kontakt ist mir gerade besonders wichtig? Wer braucht jetzt vielleicht Hilfe oder ein offenes Ohr? Was hilft mir gegenwärtig am besten, meine Batterien wieder aufzuladen: lesen, spazieren gehen, puzzlen, ausgehen, schlafen, …
Immer mal wieder nicht wissen, wie etwas oder jemand ist
Angesichts der vielen Entwicklungen im Großen und im Kleinen, mit Arbeits-, Schul- und Ferienzeit, mit vermeintlichen Sicherheiten und dem vielen Planen und Organisieren: Ist es möglich, immer wieder einen „Nicht-Wissen“-Geist zu kultivieren? Je weniger ich mich darauf fokussieren, was ich gerne hätte oder mir wünsche oder was die verschiedenen Berichte suggerieren und spekulieren, desto eher kann ich das Leben leben, das jetzt gerade da ist. Das schließt natürlich nicht aus, sich zu informieren und zu planen und seine eigene Meinung zu bilden. Sobald wir jedoch meinen, wir wüssten, was richtig oder sinnvoll oder zeitlich realistisch ist, und unseren Alltag komplett danach ausrichten, werden wir enttäuscht werden. Das Leben ist nicht planbar, und je größer das Handlungsfenster ist, desto mehr Wirksamkeit ist da. Einen roten Faden haben und trotzdem flexibel bleiben, immer mal wieder nicht wissen und offenbleiben. „Was bedeutet das jetzt? Was folgt daraus?“
Das Lieblingshotel: Wie fühlt es sich dieses Mal an? Schmeckt es dort immer noch so gut? Probiere ich mal etwas ganz Neues auf der Karte aus? Die bevorzugte Ferienregion: Weshalb fahre ich immer in die Berge, was daran tut mir gut? Und wie ist es dieses Mal? Bin ich bereit dafür, dass die Kinder ein Jahr älter geworden sind und vielleicht nicht mehr ins Spielzimmer wollen sondern lieber die Kletterwand ausprobieren möchten und dabei meine Hilfe brauchen, obwohl ich eigentlich in Ruhe Bücher lesen wollte? Wie gehe ich damit um, wenn es fünf Tage lang regnet – oder so unglaublich heiß ist, dass man sich überhaupt nicht draußen aufhalten kann? Was macht das mit mir, dass die Inflation und die gegenwärtige finanzielle Lage meinen Urlaub verkürzt haben oder weniger unbeschwert erscheinen lassen? Kann ich mich darauf einlassen, nicht zu wissen, was der verschlafene Blick des Kindes nach dem Aufwachen morgens bedeutet? Kann ich abwarten und schauen, mich zuwenden mit echtem Interesse, anstatt direkt eine Stimmung oder Laune zu antizipieren und mich davon beeinflussen zu lassen?
Leben ist ein Tanz
Leben ist ein ständiger Tanz zwischen (1) bekannten und geübten Schritten im gewohnten und sicheren Tanzsaal und (2) ungeplantem Stolpern oder einem bewussten Absetzen der Füße und aus dem Takt tanzen. Die Musik hören, den Körper spüren, sich wieder stabilisieren, die Mittänzer wahrnehmen, vor die Tür tanzen, neugierig sein, hinsetzen, zu zweit oder zu fünft tanzen, nichts tun, sich schütteln, sich umsehen, sich drehen und wieder im Rhythmus sein. Tanz deinen Tanz. Es gibt keine Regeln, nur dein eigenes Erleben.