Die antiken Griechen kannten verschiedene Worte für die Zeit: chronos, das ist die Zeitdauer, die Zeitberechnung, die Weile, das Alter, der Zeitraum. Es entspricht in etwa dem, was wir allgemein unter dem Wort „Zeit“ verstehen. Dann gibt es aber noch kairos. Das ist das rechte Maß, der rechte Ort, die rechte (günstige) Zeit.
Die Gelegenheit beim Schopfe packen
Dieses Sprichwort stammt ab vom Bildnis des Gottes Kairos, der dargestellt wird mit einer langen Haartolle, einem Schopf, der Hinterkopf aber war kahl. Soll heißen: wenn die Gelegenheit vorbei ist, hat man es verpasst. Daher muss man „die Gelegenheit (= Kairos) beim Schopfe packen“, wenn sie da ist. Dafür aber muss man wach sein, muss man da sein.
Das moderne Leben ist ziemlich durchgetaktet. Während die kleinste Zeiteinheit bei den Griechen die Stunde war, sind wir im Minutentakt unterwegs, manche sogar im Sekundentakt. Wir sind „ein paar Minuten zu spät“ und kommen gestresst und verschwitzt zum Termin. Man trifft sich um „20 vor 7“ im Restaurant oder ist frustriert, weil die andere Person die WhatsApp-Nachricht schon um „13:44 gelesen“, aber immer noch nicht geantwortet hat. Sicherlich, ohne Zeit und Normen und Verabredungen würden das Leben und das gesellschaftliche Miteinander nicht funktionieren. Allerdings scheint es manchmal, als würde das Konstrukt „Zeit“ oft ein zu enges Korsett schnüren.
In einer Meditation leite ich zuweilen an, zunächst ein kleines bisschen zur Ruhe zukommen, den Atem und das Sitzen zu spüren, sich zu erlauben, gerade nichts leisten zu müssen. Dann frage ich: „Kannst du spüren, wie alt du bist? Kannst du wahrnehmen, wieviel Uhr es ist?“ Diese Fragen lassen sich beliebig erweitern, je nach Kontext und Situation: „Kannst du spüren, welche Hautfarbe / welchen Beruf / welche Größe / welches Geschlecht / welchen Beziehungsstatus du hast?“ All das sind Konstrukte, die uns einengen. Das einzige, was wir wirklich spüren können, das ist unser Körper, unser Atem, der Kontakt zum Boden, der Kontakt zur Umwelt, die Wahrnehmungen der Gegenwart mit unseren Sinnen. Alles andere ist mental und zumindest eine Reflexion wert: Was bestimmt mein Leben? Was steht gerade im Vordergrund? Wie sehe ich mich und mein Leben?
Herr über das Heute sein
„Der größte Teil des Lebens entgleitet unbemerkt, während man Schlechtes tut, ein großer Teil, während man nichts tut, das ganze Leben, während man Belangloses tut. Kein Mensch ist sich bewusst, dass wir Tag für Tag sterben, Minute für Minute.(…) Darin nämlich täuschen wir uns, dass wir glauben, der Tod liege noch vor uns, da er in Wirklichkeit aber zum großen Teil schon geschehen ist und hinter uns liegt. Jede Stunde, die verrinnt, geht aus Deinem Besitz in den des Todes über. Darum umfasse also, mein Lucilius, alle Deine Stunden mit beiden Händen. So wirst du weniger vom Morgen abhängen und Herr über das Heute sein. Alles, Lucilius, ist fremdes Eigentum, nur die Zeit gehört allein Dir.“ (Seneca, Brief 1 – Übersetzung von Bruno Genzler in: „Die Zeit und das Glück“, Luciano de Crescenzo, München: Albrecht Knaus Verlag 1998)
Die Zeit gehört allein uns, sagt der römische Philosoph Seneca. Wie oft aber haben wir das Gefühl, fremdbestimmt zu sein und eben nicht Herr oder Verwalterin über unsere Zeit zu sein. Das stimmt natürlich – zu einem gewissen Grad. Vieles müssen wir tun und das muss vielleicht auch jetzt direkt erledigt werden, gegen unseren Willen. Das Problem ist, dass unser bewertender Geist die Aktivitäten ständig als „schöner als“ oder „langweiliger als“ einstuft und wir uns daher das Recht herausnehmen, je nach Belieben einfach mental nicht da zu sein, nicht präsent zu sein für das, was uns gerade unwichtig oder nervig oder langweilig vorkommt. Das Problem dabei: (1) auch diese Momente sind unser Leben, und (2) wenn wir uns regelmäßig rauszoomen, dann verlernen wir mit der Zeit, wirklich da zu sein wenn es um die „magischen Momente“ des Lebens geht. Wir verpassen sozusagen ganz schnell, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und vergessen überdies, dass ein Video oder ein Foto von einem magischen Moment nicht das gleiche ist als den Moment wirklich ganz zu er-leben. Wenn auf einem Live-Konzert ein Meer von Handys mitfilmen, sind die Handy-Besitzer dann wirklich beim Konzert dabei? Wenn die Sonne nach einem Regenschauer durch die Wolken bricht und magisches Licht auf die nassen Blumen scheint, dann können wir natürlich den grandiosen Schnappschuss machen – und dann wieder ganz da sein. Hinterfragen wir eigentlich jemals, wer in uns sagt, dass etwas „langweilig“, „anstrengend“ oder „einmalig“ ist?
Mein langweiliges Leben …
Wenn wir nicht aufpassen, dann passiert es schnell, dass uns unser Leben so langweilig vorkommt, so stressig, so voll, so unspektakulär. Natürlich oft „im Gegensatz zu X,Y,Z, die immer so tolle Ausflüge machen…“ Je mehr wir im vermeintlich langweiligen Alltag präsent sind, desto mehr aber können wir feststellen: das ist mein Leben. Und was brauche ich, damit es sich lebendiger anfühlt? Was ist im Rahmen meiner Möglichkeiten, um wacher zu werden und mehr da zu sein? Es ist sehr hilfreich, sich neben der üblichen Zeit (chronos), die unaufhaltsam verrinnt und gefüllt ist mit Arbeit, Pflichten, irgendwen irgendwohin fahren, einkaufen, Haus putzen, etc., sich eine zweite Einheit vorzunehmen: kairos. Was ich damit verbinde, das sind Erfahrungen und Erlebnisse, die hängenbleiben. Orte, Erlebnisse, Momente, die unsere Lebenszeit mit, ja, mit Leben füllen. Im Sommer 2021, da waren wir in dem schönen Familienhotel in der Schweiz. Was für eine Aussicht auf die Berge, wenn abends die Sonne unterging! Die Wanderung, ganz oben entlang der Baumgrenze, und dann der Kaiserschmarrn auf der Almhütte. An Pfingsten 1997, da war es so heiß, ich erinnere mich an stundenlanges Rumliegen und Schwimmen im Pool in dem tollen Hotel mit der leckeren Lasagne. Da hatte ich einen heftigen Sonnenbrand, sogar auf dem Fußrücken. Die Geburtstagsparty vorletzte Woche im Freibad bescherte uns viele fröhliche Kindergesichter, ach ja, und der Kuchen blieb zur Hälfte übrig, weil sich alle vorher mit Chips vollstopften. Ein Foto aus der Kleinkindzeit erweckt Erinnerungen an den Nachmittag, als ein Abschleppwagen vor dem Haus auftauchte und einen Falschparker mitnahm. Die Kinder waren so begeistert von dem Anblick des Wagens, dass der verpasste Ausflug (das Auto konnte ja nicht aus der Garage heraus wegen des Falschparkers) überhaupt kein Thema mehr war.
Es gibt so viele magische Momente (große und nicht so große, vermeintlich "banale"), wenn wir da sind für das Leben und nicht jedes Mal ein Feuerwerk an Begeisterung oder Überraschung erwarten. Das wäre nämlich unrealistisch und wieder ganz in einer Bewertungsspirale. Das Leben ist einfach. Wir können es aber bewusst unterstützen, indem wir von Zeit zu Zeit aus unseren Routinen ausbrechen. Ein neues Restaurant ausprobieren, einen neuen Spazierweg gehen, den Lieblingsplatz zu einer anderen Tageszeit als gewöhnlich aufsuchen, ein neues Buch entdecken, bei einem Pflicht-Termin bewusst auf neue Menschen zugehen und ins Gespräch kommen. „Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder. Ich glaube an Letzteres.“ sagt Albert Einstein. Das ist eine Einladung, vor lauter Zeitdruck im Alltag die wichtigste Zeit nicht zu verpassen: unsere Lebenszeit, die jetzt ist. Wenn wir auf die Uhr sehen, um die Zeit zu erfahren, sollten wir immer wieder denken: es ist jetzt.