„Was meint ihr, praktiziert Donald Trump Achtsamkeit?“ Das ist eine der Fragen in meinem Workshop für Teenager. Zuvor sprechen wir über bewusstes Handeln und Sprechen, über das Bemerken von Impulsen und über die Kraft der sinnvollen Entscheidung: Was ist jetzt richtig und wichtig? Welche Haltung möchte ich vermitteln? Und Haltung kann man eben auch via Twitter vermitteln. Die US-Wahlen als Beispiel für das Leben
Eigentlich hat Politik keinen Platz in meinen Kursen, doch dieses Beispiel sorgt immer für einen kleinen Aha-Effekt. Daher möchte ich hier den Prozess der US-Wahlen aufgreifen, der ein wunderbares Beispiel ist für das Bemerken dessen, was ist, und für die Achterbahn an Gefühlen und Gedanken, die wir Menschen immer wieder durchleben.
Ja, ich interessiere mich für Politik und verfolge die nationalen und die globalen Entwicklungen. Ich habe meine Meinung und Tendenzen, versuche mich zu erkundigen und gebe immer wieder auch zu, dass ich mich bei manchen Themen viel zu wenig auskenne. Außerdem gibt es oft kein schwarz und weiß, und mit verändertem Wissen kann auch eine veränderte Meinung kommen. Die Wahlen hatte ich schon im Vorfeld verfolgt, ich hörte regelmäßig US-amerikanische Podcasts, schaute verschiedene Sendungen und verfolgte in einer Meditations-App spezielle Programme zur Stärkung von Verbundenheit und Gleichmut. Dabei war das Thema für mich auch immer wieder das bewusste und dosierte Konsumieren von sozialen Medien und Berichterstattungen.
Pausenlose Trigger für neue Gefühle und Gedanken
Was in der letzten Woche geschah war eine zutiefst spannende und aufwühlende Reise. Da waren Wunschdenken, Hoffnung, Angst, Unglauben, Rastlosigkeit, Nervosität, kreisende Gedanken, ein Vorpreschen in die Zukunft („Was passiert, wenn…?“), Inspiration, natürlich das aktuelle Leben mit Corona, Kindern, Ferienprogramm, Sonne und Spaziergängen, Streitereien über Familienregeln und immer wieder die Impulse, die neuesten Hochrechnungen anzusehen. Ich bemerkte, wie andere Themen in den Hintergrund rücken durften, ohne ganz überdeckt zu werden. Ich bemerkte, wie wichtig es ist, meine Abendroutine beizubehalten und den Tag mit Ruhe und Selbstfürsorge zu beenden. Ich bemerkte die Impulse, morgens direkt den Sender meines Vertrauens anzuschalten – und gab nicht nach. Ich erlaubte mir am Wochenende das bewusste Erleben und Ausdrücken von Emotionen beim Betrachten der Freudenfeiern im Fernsehen und nahm wahr, wie ich das Thema langsam mit einem Gefühl von Sättigung und, ja, Erleichterung wieder in den Hintergrund treten lassen konnte.
Was wichtig ist, ist für jeden anders
Dieser ganze Prozess war und ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie manche Themen – und das mag für jeden immer wieder etwas anderes sein – im Laufe unseres Lebens in den Vordergrund rücken und ihren Platz ganz vorne einnehmen, bis sie von etwas anderem abgelöst werden oder einfach wieder kleiner werden dürfen. In den vergangenen Wochen habe ich immer wieder gehört, dass sich andere nicht so sehr dafür interessieren, es ist ja so weit weg, das geht ja ohnehin so und so aus, ich solle mir da nicht so viele Gedanken machen, etc. Aber es spielt keine Rolle, was andere sagen oder denken: jeder hat seine eigenen Themen und darf selbst bestimmen, ob sie zeitweilig in das Rampenlicht treten oder nicht. Kein anderer kann nachfühlen oder einschätzen, was für mich gerade jetzt wichtig ist – und ich kann das ebenso wenig für andere. Genauso wie ich mir nicht herausnehme, meinem Kind zu sagen, dass es jetzt gerade wirklich übertrieben ist, wegen eines heruntergefallenen Lutschers zu weinen, genauso wenig kann ein anderer mir vorschreiben, was ich jetzt gerade fühlen oder denken sollte und was nicht.
Die Herausforderung als Lehrmeister
Mit der Praxis der Achtsamkeit kann so ein Ereignis und alles, was es mit sich bringt, eine unheimlich lehrreiche Zeit werden: Ich kann mich und meine Gedankengänge näher kennenlernen, meine Trigger für Emotionen wie Angst, Wut, Hoffnung oder Verunsicherung wahrnehmen, wertende Gedanken ertappen, meine Impulse zur Ablenkung spüren und das Verlangen nach „mehr“ (mehr Information, mehr Sicherheit, mehr Kontrolle). Und ich kann mich jedes Mal aufs Neue entscheiden, was ich mit dem mache, was sich da in mir zeigt. Was hierbei ganz hilfreich war und ist, ist die regelmäßige Verankerung in meinem Leben und in meinem Körper. Wo bin ich? Was ist jetzt gerade wahr und wichtig für mich? Wie kann ich auf mich und meinen Körper aufpassen? Wie kann ich präsent sein mit der Person, die vor mir steht? Wie kann ich verbunden bleiben mit dem, was sich global entwickelt? In den ersten Stunden der Auszählungen bot Dan Harris von Ten Percent Happier eine live-Meditation und Austausch in der „Election Sanity Challenge“ an. Ich meditierte mit via YouTube, las die Kommentare im Chat und freute mich an dem Angebot und an der erdenden Meditation von Rev. angel Kyodo williams. Kurz vor dem Ende erst wurde mir bewusst, dass dies gerade wirklich live ist und ich nicht nur zuschaue, sondern Teil dieser Gemeinschaft bin, die sich gerade hier virtuell zusammenschließt. Eine neue Schicht entstand: aus mentaler Verbundenheit und Interesse entstand reelle und gelebte Verbindung.
Das Leben selbst ist die Herausforderung – und das Thema ist immer die Gegenwart
Wie Marc Aurel schon im 2. Jahrhundert n. Chr. schrieb: „Wie einleuchtend muss es dir nicht vorkommen, dass keine andere Lebenslage zum Studium der Weisheit so geeignet sei als diejenige, in der du jetzt gerade dich befindest?“ (in „Selbstbetrachtungen“, Elftes Buch)
Hätte ich das Leben und meine Lebenslage manchmal gerne anders? Natürlich! Aber es ist vollkommen irrelevant, was ich will, denn das Leben ist, wie es ist. In diesem Sinne ist 2020 kein „verlorenes Jahr“ oder „eins zum Vergessen“ – etwas, was man im Zusammenhang mit Corona immer wieder hört. Alles, was passiert ist und noch passieren wird, war und ist der Anstoß für einen zutiefst lehrreichen und ungemein wertvollen Prozess, auf dessen Weg man mehr Klarheit, Verständnis, Verbindung und Verankerung in den eigenen Werten und im eigenen Leben finden kann – eben gerade wegen all der Herausforderungen. Wir wachsen nicht in der Komfortzone. Wachstum kann nur dort stattfinden, wo wir gefordert werden.