Im August hatte ich die große Freude, mit Freunden und Kollegen mehrere Familien in der „Familiensommerwoche“ zu begleiten. Miteinander, Achtsamkeit, spielen, basteln, sein, Natur, Verbindung, und sehr nahrhaft bekocht werden. Kurz darauf war ich selbst Teilnehmerin eines Retreats der sogenannten Integrativen Achtsamkeit. Und irgendwann muss man den Koffer wieder packen und in den Alltag zurückkehren ...
Mein Lehrer Lienhard Valentin sagt von sich scherzhaft, er sei früher ein regelrechter „Retreat-Junkie“ gewesen. Meine erste Auszeit mit Achtsamkeit, Meditation und Schweigen machte ich 2016 im Rahmen meiner Ausbildung, und seitdem bin ich regelmäßig ein paar Tage im Jahr unterwegs. Verschiedene Lehrer, verschiedene Orte, verschiedene Themen. Immer aber geht es um das Kultivieren der Qualitäten von Achtsamkeit, dem nach innen lauschen, tiefer gehen, bei sich vorbeischauen und zur Ruhe kommen. Wie bei einer Schneekugel so lange mit dem Bewegen aufhören, bis der ganze Schnee sich gesetzt hat und man klarer sieht. Was es dort zu sehen gibt? Das ist immer anders – wir Menschen verändern uns ja ständig – und auch irgendwie immer gleich in der Essenz: einfach nur sein, so wie man gerade ist. Ja, Retreats oder andere Arten von Auszeiten können regelrecht süchtig machen, denn diese Ruhe, der sichere Rahmen, begleitet und versorgt werden, oft in wunderschöner Natur, ohne digitalen oder Verkehrs-Lärm und ohne dringende Mails, all das ist unbezahlbar wertvoll und man kann sich wirklich auf die Reise zu sich einlassen. Und dann kommen früher oder später der Tag der Abreise und die Frage: Und wie kehre ich jetzt wieder zurück in mein Leben, ohne an dem Druck und an dem Lärm zu verzweifeln?!
Man kann die Erfahrung nicht mitnehmen
Einer meiner Lehrer sagte einmal am Ende eines Retreats: Man kann die Erfahrung der Retreat-Tage nicht mitnehmen, also die Ruhe, der umsorgende Rahmen. Sobald man versucht, die Umstände des Alltags so anzupassen, dass man jeden Tag erneut in diese Ruhe eintauchen kann, wird man kläglich scheitern. Ich vermisse immer direkt die wunderbaren Salatbuffets, die es zu Hause natürlich nicht gibt. Außerdem ist der Alltag einfach geprägt von Terminen, Zeitdruck, Agenda, Aufträgen, Anforderungen, Wäsche waschen, Alltagsthemen, Chauffeurdiensten für die Kinder und dringenden Mails. Da ist einfach keine Ruhe, kein eigener Rhythmus, kein „erst mal eine halbe Stunde zu mir kommen“ möglich. Es ist allzu menschlich, das Gute festhalten zu wollen und möglichst lange davon zu zehren. Dabei vergessen wir aber schnell, dass wir dadurch in der Vergangenheit festhängen und in der Einstellung von „wenn nur … dann…“. Loslassen ist nicht umsonst einer der Grundpfeiler der Achtsamkeit.
Man könne nicht die Erfahrung mitnehmen, wohl aber das Gelernte, so der Rat des erwähnten Lehrers. Wir können uns immer wieder daran erinnern, dass wir beispielsweise in uns ein Gefühl von Ruhe und Verbundenheit gefunden haben. Dass wir Zugang zu unseren innersten Werten hergestellt haben, die nichts mit Geld, Likes oder einem perfekten Körper zu tun haben. Dass wir gesehen haben, was wirklich zählt im täglichen Miteinander. Dass wir bemerkt haben, dass unser innerer Antreiber schnell das Steuer übernimmt und er aber eigentlich oft über das Ziel hinausschießt. Oder dass wir gelernt haben, wie sehr wir unter Druck stehen und dass sich Körper und Wohlbefinden an einer kritischen Grenze befinden. Dass wir eigentlich schon lange unser Bestes tun, jeden Tag aufs Neue, und dass es in Ordnung ist, wenn es auch mal Tage gibt, an denen unser Bestes einfach nur darin besteht, aufzustehen und den Backofen anzumachen für die Fertig-Pizza, weil für mehr das Kopfweh einfach zu stark ist. Dass wir eigentlich ein Bedürfnis nach Bewegung, nach Tanzen, nach laut singen haben, dem aber im Alltag bisher keinen Raum geben. Dass wir immer wieder Zeiten der Stille zum Auftanken bräuchten, uns aber bisher nicht trauen, darum zu kämpfen oder sie überhaupt einzufordern. Oder dass die Natur uns unheimlich viel gibt und uns immer wieder erdet, im Alltag aber nur im Vorbeifahren wahrgenommen wird.
Die Macht der Intention
Was es auch immer ist, was während solcher Auszeiten gelernt wird – und dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein klassisches mehrtägiges Schweigeretreat handelt oder um ein paar Stunden der Erholung in einem bestimmten Rahmen wie die Familiensommerwoche oder um einen ausgedehnten Spaziergang – es kann sehr hilfreich sein, sich entlang eines inneren Fadens zu orientieren. Was hat mich besonders angesprochen? Wo habe ich mich wirklich gut gefühlt? Weshalb hat es gut getan? Was war hilfreich für mich? Wo zieht es mich hin? Das mögen einzelne Worte sein – Verbundenheit, Ruhe, Zufriedenheit, Dankbarkeit – oder bestimmte Bereiche wie Natur, Körperbewusstsein, Musik, die Sinne, Inspiration durch Lektüre, etc.
Wenn wir uns nun auf einen Bereich fokussieren und dort geeignete Intentionen formulieren, dann wird es möglich, das Gelernte in den hektischen Alltag zu übertragen und sich jeden Tag und jeden Moment (wann immer wir uns daran erinnern) mit dem zu verbinden, was uns wichtig ist. Konkrete Intentionen helfen dabei, unseren Handlungen und Wegen eine Richtung zu geben, so dass wir dem inneren Kompass besser folgen können. Es bedeutet nicht, dass wir nicht immer wieder vom Weg abkommen und einfach im Trubel des Alltags vergessen, was uns gut tut und was wir eigentlich in den Vordergrund stellen wollten. Es bedeutet, dass der Weg immer noch da ist, wenn wir uns an ihn erinnern, und wir uns einfach wieder neu ausrichten und von neuem beginnen.
Hier sind ein paar Beispiele, die mir eine Hilfe waren und sind:
- Heute möchte ich den Menschen, denen ich begegne, in die Augen sehen. Ich möchte sie wirklich sehen und mich mit ihnen verbinden, besonders dann, wenn ich eigentlich „keine Zeit“ habe.
- Heute achte ich besonders auf meinen Körper: ich werde immer wieder innehalten und spüren, wie es mir geht. Wo tut es weh? Trinke ich genug? Wann bin ich satt? Ich werde immer wieder vom Schreibtisch aufstehen und frische Luft schnappen.
- In Momenten des Wartens oder der Pause werde ich nicht direkt mein Handy herausholen und mich ablenken. Ich werde mich statt dessen umsehen und versuchen, für ein paar Minuten einfach nur da zu sein.
- Heute möchte ich besonders aufmerksam die Verbindung zur Natur suchen: die Blumen im Haus betrachten, den Himmel und die Vögel beobachten, die Wolken ziehen sehen, die Blätter rauschen hören, einen kurzen Spaziergang entlang des Flusses machen.
Was auch immer es ist, worauf wir den Fokus legen möchten, es kann sich täglich abwechseln oder mal eine Woche lang das Gleiche sein. Intentionen sind keine Wünsche oder Ziele, sondern Ausrichtungen – ein innerer Kompass. Je mehr wir uns nach dem ausrichten, was uns im Inneren wichtig ist, desto mehr können wir das mitnehmen, was wir in den ruhigen Momenten erlebt und so wertgeschätzt haben.
Dranbleiben mit Kursen, Workshops, Podcasts, etc…
Ein weiteres Hilfsmittel zur Erinnerung ist natürlich, den Weg weiterhin mit anderen zu gehen, sich zu vernetzen, zu verbinden, gegenseitig zu unterstützen und tiefer zu gehen. Kurse, Workshops, Retreats, Bücher, Podcasts – es gibt Unmengen an Möglichkeiten, um dranzubleiben und sich weiter inspirieren zu lassen. Einfach einen Schritt nach dem anderen machen und neugierig bleiben, mehr braucht es oft nicht.