September, Urlaubszeit, Schulbeginn, Neustart im Büro nach der Pause, die Bäume verfärben sich, die ersten Termine stehen wieder an, den Schlaf-Wach-Rhythmus neu einstellen. Alles wie immer, oder? Und natürlich nicht. Die Bäume verloren schon im Juni erste Blätter, bei der Arbeit gibt es das ganze Jahr über Hochphasen und Perioden der kurzen Pause, und auch sonst sind wir alle weitergekommen und älter geworden auf unserem Lebensweg.
Aber natürlich gibt es jedes Jahr diese üblichen Floskeln. „Wie war es im Urlaub?“, „Wieder fit für die nächsten Projekte?“ und das obligatorische „Na, gut erholt?“ Irgendwie bietet dieser routinehafte Smalltalk einen angenehmen festen Rahmen: die große Sommerpause ist vorbei und wir treffen uns wieder in bekannter Runde und es geht weiter. Routinen geben Halt. Routinen ermöglichen auch, das Gesicht zu wahren und einfache Antworten auf Personen oder Fragen zu geben, die tatsächlich nicht tiefer gehen möchten und lediglich ein freundliches „Ja, ich hab mich gut erholt. Was steht an?“ erwarten.
Angst vor und Mangel an ehrlichen Fragen
Das missachtet aber vollkommen die Realität, dass es im Leben von Menschen immer wieder Einschläge gibt, die sie nachhaltig prägen oder für immer verändern, so dass die in Routinen keinen Platz mehr finden. Ich habe in den vergangenen Wochen und Monaten die Erfahrung gemacht, dass auf bestimmte Fragen und interessierte Präsenz immer öfter tiefgründige Lebensgeschichten zum Vorschein kommen. Es scheint, als sei der Hunger, gesehen und gehört zu werden, noch größer geworden als zuvor. Wenn nun jemand da ist, der ehrliche Fragen stellt, dann gibt es dieses wertvolle Geschenk der Präsenz und der Menschlichkeit: Ich sehe dich, ich höre dir zu. In einem Buch über Mediengebrauch (Nancy Collier) habe ich vor Jahren einen Satz gefunden, der hängengeblieben ist: „Körper brauchen andere Körper.“ Zeitgleich mit dem Anstieg des Mediengebrauchs aus Langweile oder zur Ablenkung steigt meist auch das Bedürfnis nach echter Begegnung, nach ehrlichen Fragen, nach zwei Augen, die tief in das eigene Herz sehen. Ein Bildschirm, ungeachtet seiner Größe oder gestochen scharfer Bilder, kann das einfach nicht. Wenn es aber – wegen Pandemie und Kontaktverbot, sozialer Angst, allgemeinem Unwohlsein oder aus anderen Gründen – einen Mangel an echter Menschlichkeit im eigenen Alltag gibt, dann kann dieses Bedürfnis immer weiter schmerzhaft wachsen und bewusst oder unbewusst mit noch mehr Mediengebrauch, Essen, zu viel Arbeit oder anderem Verhalten zugepflastert werden.
Viele Menschen trauen sich nicht, besonders nach Schicksalsschlägen ihrer Bekannten, überhaupt irgendwelche Fragen zu stellen, und sie erzählen von sich, bleiben an oberflächlichen Floskeln hängen und lächeln ihre tiefe Unsicherheit weg. Die Betroffenen wiederum fragen sich, weshalb sich niemand für sie und für ihre Gefühle, ihren Schmerz, ihren gegenwärtigen Zustand interessiert, weshalb keine Fragen kommen. Es ist nicht einfach, wahrlich nicht. Viele sagen lieber nichts als womöglich das Falsche. Aber: das „Falsche“ gibt es gar nicht! So lange wir ehrliche Fragen stellen und dann einfach nur zuhören, ohne unsere eigene Geschichte einzuflechten („Oh ja, das kenne ich. Bei mir damals …“), können wir nichts falsch machen. Für einander als Mensch da zu sein ist nie falsch! Wir müssen gar nichts tun, einfach nur da sein und aufnehmen – wenn wir es denn können.
Sich trauen, die wichtigen Fragen zu stellen
Wir müssen uns wieder trauen, Fragen zu stellen. Die wichtigen Fragen nach dem Was und nach dem Wie. Kürzlich holte sich meine Tochter wiederholt Schokolade aus dem Schrank. Als ich sie einige Zeit später darauf ansprach und fragte, was kurz vor dieser Handlung in ihr vorgegangen war, sagte sie: „Ich hatte einen blöden Gedanken und wollte mich ablenken.“ Der blöde Gedanke, so stellte sich heraus, war die akute Angst um die kranke Oma. Auf dieser Basis können wir miteinander sprechen und füreinander da sein. Es geht also nicht um die klassische „warum“-Frage: „Warum hast du das gemacht?!“ – diese Frage zu beantworten benötigt sehr viel Klarheit und Reflexion und bleibt daher meist oberflächlich, außerdem enthält sie oft eine unterschwellige Bewertung – sondern um etwas ganz anderes: „Wie hast du dich gefühlt? Was hat das mit dir gemacht? Wovor hast du Angst? Wie geht es dir? Was brauchst du gerade?“
Eine der wichtigsten Fragen ist übrigens: „Wie kann ich helfen?“ Trauen wir uns, einander mehr Fragen zu stellen. Wer weiß, vielleicht werden wir überrascht, wie viele Türen sich öffnen, wie viele Mauern zu bröckeln beginnen und wie viele neue Begegnungen dadurch entstehen können. Und eines Tages können wir selbst diese Fragen hören und beantworten und spüren, wie gut es tut, wenn zwei Menschen sich ehrlich füreinander interessieren und Körper und Herzen in Resonanz treten.